Das Leben ist groß
Mittelmäßigkeit aus der Akademie ausgeschlossen worden war. Er hatte sich bei städtischen Turnieren angemeldet und war den Blicken der anderen Akademieschüler ausgewichen, die als Teilnehmer oder – immer öfter – als Zuschauer kamen. Im Laufe des Frühjahrs und des Sommers musste er einige brillante Partien gespielt haben – das wusste er, weil er ihren Verlauf auf Mikrofiche und später im Internet nachlesen konnte. Er hatte beim städtischen Schachturnier Tricks angewendet, mit denen niemand gerechnet hatte, und Gegner überrumpelt, die weit älter, erfahrener und bekannter waren als er selbst. Doch das Schachspiel war inzwischen bloß noch eine Funktion seines vegetativen Nervensystems – dass es so staunenswert komplex war, machte es kein bisschen schöner oder absichtsvoller. Er absolvierte seine Spiele wie einen besonders eindrucksvollen Partytrick. Irgendwie hatte seine Arbeit an der Flugschrift bewirkt, dass er die innere Bindung zum Schach verlor. Und weil er Elisabeta verloren hatte, war ihm dieser andere Verlust egal.
Es war verblüffend, wie vollständig eine abwesende Person jeden geistigen Freiraum ausfüllen konnte, wie die gesamte unbekannte dunkle Materie plötzlich aufleuchten und nur dieses eine Gesicht, diese eine Stimme reproduzieren konnte, wieder und wieder, wie unzählige Durchschläge eines verbotenen Kunstwerks aus dem Untergrund. Und es war erschreckend, wie eine entfernte Möglichkeit mit ihrem schieren Gewicht alles Reale erfasste, niederrang und erdrückte. Alexander wusste selbst, wie unsinnig es war, ein Jahr lang um eine Frau zu trauern, die so zufällig und kurzin sein Leben getreten war, so unwahrscheinlich wie ein Meteoritenschauer oder ein Hirnaneurysma. Sie war kurz an die Oberfläche gekommen und gleich wieder untergetaucht. Eine halbe Stunde lang hatte sie in dem See seiner Einsamkeit Wellen geschlagen, wie ein Urzeitmonster auf einer verwischten Fotografie, das es vermutlich nie wirklich gegeben hatte. Sie hatte kaum lange genug den Kopf über Wasser gehalten, um ihm zuzuwinken.
Und doch – wenn er auf jenes Jahr zurückblickte, war, so schrecklich es auch geendet hatte, seine lebhafteste Erinnerung die an eine unsichtbare weibliche Hand in seinem Nacken, die ihn daran hinderte, sich nach ihr umzudrehen.
Bevor sie umgezogen war, hatte sie ihn noch einmal besucht – um sich zu verabschieden, wie er später begriff. Als sie klopfte, war es Monate her, dass Alexander bei diesem Geräusch zuletzt hoffnungsvoll aufgeblickt hatte. In letzter Zeit war immer öfter der Mann aus dem Nebenzimmer vorbeigekommen, um ihn zum Trinken einzuladen, und einmal hatte die Verwalterin ihm einen Teller undefinierbaren Eintopfs mitgebracht, auf dem sich eine dicke Haut gebildet hatte, bis Alexander endlich auf die Idee kam, ihn zu essen. Es war ein wenig peinlich gewesen, dass die Nachbarn sein nächtliches Glück mitanhören mussten, doch dass sie sein Unglück mitbekamen, war fürchterlich. Sie hatten Mitleid mit ihm, und als er das begriff, tat er sich selbst nur umso mehr leid und zog sich ganz zurück. Als Elisabeta dann Anfang September vor seiner Zimmertür stand, war sein erster Impuls, ganz still zu halten und so zu tun, als sei er gestorben.
Doch Elisabeta ließ sich so leicht nichts vormachen. Er konnte sie vor der Tür mit ihrer Kleidung rascheln hören und wusste gleich, dass er nicht drum herumkommen würde aufzumachen. Immerhin konnte er sie warten lassen. »Alexander«, sagte sie. »Mach auf.«
Er tat es nicht, doch er richtete sich im Bett auf. Breite Lichtschlieren drangen zum Fenster herein und brachten den Staub zum Leuchten.
»Ich kann deine Hausschuhe sehen«, sagte Elisabeta. »Ich weiß, dass du da bist. Mach auf, ich bin’s.«
Er stand auf und ging zur Tür. Er legte eine Hand auf den Knauf und dachte an das erste Mal, da er ihr die Tür geöffnet hatte. Es erschreckte ihn, wie schnell das Leben sich ändern konnte, nur um gleich darauf alles wieder rückgängig zu machen. Er öffnete, und da war sie. Sie sah aus wie immer. Er sah vermutlich hässlich aus, jedenfalls fühlte er sich so. Und er hatte nichts dagegen, wenn sie ihn so sah, schließlich war sie dafür verantwortlich.
»Tatsächlich«, sagte er. »Du bist es. Und wer bist du genau?«
»Kann ich reinkommen?«
»Nett, dass du fragst.«
Er trat beiseite, um sie hereinzulassen. Normalerweise hätte er den Stapel alter Ausgaben der 64 vom Bett geräumt, damit sie sich setzen konnte, doch diesmal
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