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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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die Höhe. Es war merkwürdig, Elisabeta ganz in Weiß zu sehen, nachdem sie immer nur Schwarz getragen hatte. Sie sah aus wie eine domestizierte Blume, der man über Generationen eine falsche Blütenfarbe angezüchtet hat. Falls sie Alexander bemerkte, wusste sie es gut zu verbergen. Sonja, ihre Mitbewohnerin, stand mit welken Rosen und einem bestürzten Gesichtsausdruck dabei. Nationalistische Dankgebete wurden aufgesagt, Papiere gestempelt, und den Eheleuten wurden die Bedingungenfür eine rechtskräftige Heirat vorgelesen. Alexander schlich sich davon, als die Fotos gemacht wurden.
    Anschließend ging er ins Saigon. In seinem Schmerz nahm er die grünen Deckenleuchten wie die glimmenden Nachbilder war, die manchmal von innen vor den Augenlidern tanzen. Nikolai und Iwan stritten um irgendetwas – Iwan wollte in der nächsten Ausgabe eine Verteidigungsschrift für einen Pechvogel aus Litauen abdrucken, und Nikolai war vehement dagegen –, doch Alexander hörte gar nicht zu. Zum ersten Mal wünschte er sich, erwischt zu werden, nur um des Pathos willen, nur für den Hauch von Märtyrertum. Es war ein kindischer Wunsch. Aber irgendwie gefiel ihm die Vorstellung, in eine Art öffentliche Heldentat verstrickt zu werden, während Elisabeta den Weg in die privateste Form der Niedertracht wählte. Dann würde sie ja sehen, dachte er. Nur was?
    Später schämte er sich dieser Gedanken. Obwohl er nicht abergläubisch war, konnte er nicht vergessen, dass er sich bei ihrem letzten gemeinsamen Abend im Saigon im Selbstmitleid gesuhlt hatte. Er konnte nicht vergessen, dass er bereit gewesen war, für einen Augenblick der Anerkennung durch dieses Mädchen alles hinzuwerfen. Deshalb konnte er in seinen düstersten Momenten, in den vielen schlaflosen Nächten, die folgen sollten, manchmal an Nikolai denken und ihm beinahe verzeihen.
    An dem letzen Abend, den Alexander mit Iwan verbrachte, schneite es. Es war Mitte November, und dicke Flocken torkelten wie betrunkene Tauben durch die Luft. Seit Elisabetas Hochzeit konnte Alexander sein Zimmer kaum noch ertragen. Er hielt es dort nur aus, wenn er sehr spät dran oder sehr betrunken war oder beides zugleich. Er hatte sich angewöhnt, Wolschokoje-Wein aus den roten Verkaufsautomaten zu besorgen, weil die Supermarktware meistens aus Rohalkohol, Apfelsaft und petrochemischen Zusatzstoffen bestand. Ungefähr vier Minuten hielt er es bei voller Beleuchtung in seinem Zimmer aus – gerade lange genug, um seine Schachbücher vom Bett zu fegen, sich im Bad ein wenig Wasser ins Gesichtzu spritzen, den Großteil seiner Sachen auszuziehen und ins Bett zu fallen. Wenn er nur eine Minute länger blieb, fühlte er sich kränklich, nervös und niedergeschlagen; Kerzen ließen sein Zimmer noch dunkler wirken, als wenn er gar kein Licht machte. Also ging er abends immer öfter zu Iwan, trank mit ihm einen Wodka nach dem anderen, hörte Jazz auf Voice of America oder sah sich das grauenhafte Staatsfernsehen an. In jenem Herbst wurden auf Kanal eins wieder und wieder »Die Seelenschacherer« gezeigt, und manchmal lachten sie über den plumpen Antisemitismus der Sendung. Manchmal wurden sie sehr still und sehr betrunken.
    Iwans Reaktionen auf Alexanders Besuche schwankten zwischen amüsierter Gleichgültigkeit und beinahe so etwas wie Zuneigung. Iwan lebte zwar ebenfalls allein, doch seine Wohnung strahlte keine Einsamkeit aus. Vielleicht lag es an der Katze, an den Büchern, an dem ständigen Schreiben, Recherchieren und Kopieren, an den wüsten Wortgefechten mit dem Radio oder den unfassbar vielen Zeitschriften, die Iwan immer irgendwo auftreiben konnte – der prokommunistischen Leningrader Sowest’ , der America – dem Propagandablatt der US-Regierung – und der Frauen und Russland , dem ersten und, soweit Alexander wusste, einzigen feministischen Samisdat-Organ. Wie auch immer er es anstellte – irgendwie schien Iwan immer im Zentrum seines eigenen Lebens zu stehen, statt sich unbeholfen am Rande des Geschehens herumzudrücken und nicht zu wissen, wo er hinsehen sollte.
    Als Alexander an jenem letzten Abend zu Besuch kam, saß Iwan vor dem winzigen Fernseher, in dem ein Mehrteiler lief, und machte Notizen für die nächste Ausgabe. Die abgehackten Gesten der Schauspieler wirkten hektisch, beinahe verzweifelt. Doch Iwan schlug sich vergnügt auf sein knochiges Knie und bot Alexander einen Wodka an. Die Katze schnurrte lauter als die Schreibmaschine. Im Fernsehen waren durch das schwarzweiße

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