Das Leben ist groß
ließ er es bleiben. Sie sah verlegen aus, und das freute ihn. »Was willst du hier?«, fragte er.
Sie berührte ihr Haar, dann ihre Stirn. Dann verschränkte sie die Arme. In einer Hand hielt sie einen Brief. »Du hast es schon gehört, nehme ich an«, sagte sie.
»Habe ich.«
»Ich hoffe, du verstehst, warum ich das tue.«
»Tue ich nicht.«
Sie kniff die Augen zusammen und wandte sich zum Fenster.
»Wann ist denn der große Tag?«, fragte er.
»Er ist ein guter Mann.« Eine Seite ihres Gesichts war wie von Schatten verschluckt.
»Gut? Das bezweifle ich. Erträglich vielleicht.«
»Er ist erträglich.«
»Na, wunderbar. Jeder sollte ein Leben führen, das er ertragen kann.«
Sie kramte nach einer Zigarette. »Hast du Feuer?«
Er holte ein Feuerzeug aus der Tasche und beugte sich vor, um ihr die Flamme hinzuhalten. Dann trat er drei Schritte zurück, damit sie nicht dachte, die Geste hätte sie einander näher gebracht.
»Was ist das?«, fragte er und zeigte auf den Brief. Er hoffte, er sei von ihr, voller liebevoller, tränenreicher Entschuldigungen, Erklärungen, Beschwörungen. Voller demütiger Bitten um Verzeihung und voller Versicherungen, dass sie ihn immer lieben werde. Er hatte ihr nie gesagt, dass er sie liebte, aber sie war ja nicht dumm. Oder vielleicht doch. Fast alles, was er zu Anfang von ihr gedacht hatte, hatte sich als falsch erwiesen, also hielt er sich besser mit seinen Vermutungen zurück. Er hoffte, sie würde ihm den Brief überreichen und ihn bitten, ihn zu lesen, so dass er sich die kleine, schmutzige Freude gönnen konnte abzulehnen.
»Du hast Post bekommen«, sagte sie. »Aus den USA. Der Leningrader Schachverein hat sie weitergeleitet.«
Es schmerzte ihn, dass der Brief nicht von ihr war, doch seine Gedanken blieben daran haften, und er wollte ihn nicht haben. »Ach ja?«, sagte er. »Das ist ja nett.«
»Ich dachte, ich könnte ihn dir vorbeibringen.«
»Auch das ist nett.«
»Glaubst du, es ist Fanpost?«
»Wohl kaum.«
Sie sah noch immer aus dem Fenster und rauchte – stand nur so da und wich seinen Blicken aus und wartete, aber worauf? Was für ein jämmerlicher Schlussakt das war. Er nahm ihre Beziehung immerhin wichtig genug, um zu finden, dass sie ein sauberes Ende verdiente. Das monatelange Schweigen kam ihm im Nachhinein angemessener vor, weniger erbärmlich. Der Unterschied war ungefähr wie der zwischen einer raschen Enthauptung und einer Steinigung – einer stundenlangen Steinigung, bei der man immer wieder aufstand und um sein Leben flehte. Doch im Grunde widerten beide Möglichkeiten ihn an. »Du solltest jetzt gehen. Ich habe zu tun.« Er wies vage in Richtung Bett und wollte damit zu verstehen geben, dass er sich mit Schachproblemen befasste, nicht, dass er damit beschäftigt gewesen war, die Wand anzustarren.
Sie hielt den Brief hoch. Es sah aus, als hätte sie eine weiße Fahne in der Hand. »Willst du ihn nicht lesen?«
Er setzte sich auf sein Bett und griff nach einer Ausgabe der 64 . Die Probleme darin hatte er längst alle gelöst. »Behalte du ihn doch«, sagte er. »Ich habe gerade keine Lust, Briefe zu lesen.«
Er dachte, sie würde vielleicht noch etwas sagen. Er wartete darauf. Doch sie sagte nichts. Sie stand noch eine Weile stumm da. Dann ging sie und schloss die Tür mit einer Sorgfalt, die ganz sicher geheuchelt war.
Die Heirat fand im Oktober in einem Hochzeitspalast im Stadtzentrum statt, und Alexander kam ungeladen gerade in dem Moment, da Elisabeta zu den Klängen der Nationalhymne den Saal durchschritt. Von da an verzog er bis zum Ende seines Lebens jedes Mal schmerzlich das Gesicht, wenn er diese Melodie hörte. Manchmal bemerkte es jemand und staunte, wie sehr Alexander das Regime noch immer hasste. Doch er dachte gar nicht an das Regime, wenn er die Hymne hörte, nicht an Stalins zwanzig Millionen Opfer oder den qualvollen Tod im Gulag oder an Mischas mit Pisse durchtränkte Irrenhauszelle. Er dachte an Elisabeta und den Parteifunktionär, der ihr in dem grellen, sirrenden Licht feist und erwartungsvoll entgegensah.
Alexander stand ganz hinten im Saal, neben ein paar weiteren Nachbarn, neben Passanten, die hereingekommen waren, um sich aufzuwärmen, und einigen Frauen, die vom Aussehen her vermutlich Elisabetas Kolleginnen waren. Elisabeta hatte ihr Haar an den Seiten zu zwei großen Schnecken aufgerollt. Der Mann sah aus, wie der Belgier ihn beschrieben hatte; selbst wenn er stillstand, ragte er bedrohlich schwankend in
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