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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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interviewen oder so? Ihm zu sagen, was er anders machen soll? Ihre politische Expertise anzubieten?« All das ratterte er herunter, ohne im Mindesten ironisch zu klingen.
    »Was? Ob ich … was? Nein. Nein.«
    »Hm.« Er nahm die Speisekarte und begann darin zu lesen. Ich wartete darauf, dass er weitersprach, und bemerkte distanziert die Welle der Angst, die sich in meinem Brustkasten aufzutürmen begann. Es ist interessant, wenn man beobachten kann, wie die einzelnen Bestandteile eines Gesichts zu Schönheit verschmelzen. Wenn etwas an dem Gesicht dieses Mannes ungewöhnlich war, dann seine Strenge, die von der Lieblichkeit seiner Augen gebrochenwurde. Ich wollte unser Gespräch unbedingt wieder in den Bereich beantwortbarer Fragen lenken. Ich sagte das Einzige, was ich zu sagen hatte.
    »Ich habe mich neulich mit Michail Andrejewitsch Solowjow getroffen.«
    Er ließ die Speisekarte sinken und sah mich mit einem Ausdruck an, den man nur als Weltschmerz beschreiben konnte. »Mischa. Verstehe. Und wie war’s?«
    »Es sieht so aus, als wäre er auf einem Rachefeldzug.«
    Viktor riss mit einem gespielt verletzten Ausdruck die Augen auf. »Ach ja?«
    »Ich hatte den Eindruck, es gäbe, na ja, Flügelkämpfe.«
    »Flügelkämpfe? Um Himmels willen. Erzählen Sie mehr davon.«
    »Er wirkte verbittert.«
    »Er ist von einem Bus überrollt worden. Das würde jeden verbittern, würde ich sagen.«
    »Das wusste ich nicht. Aber, ich meine, das war nicht Besetows Schuld, oder?«
    »Schuld ist ein ziemlich verschwommener Begriff, finden Sie nicht?«
    »Eigentlich nicht«, sagte ich. Viktor Dawidenko zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder der Speisekarte zu. Ich zwang meine Stimme, tiefer zu klingen, als sie es normalerweise tat. »Wie würden Sie die Beziehung zwischen dem Wahren Russland und dem Alternativen Russland genau beschreiben?«
    Er verzog das Gesicht. »Stumme Gleichgültigkeit. Nein, das stimmt so nicht. Widerwillige Duldung.«
    »Von dem Anderen Russland aus, meinen Sie?«
    »Ja, klar.«
    »Also ist das Wahre Russland ein PR-Problem?«
    »In mancher Hinsicht schon, in anderer nicht.«
    »Wie alles andere auch. Aber warum duldet Alexander Mischas Fraktion? Hat Mischa etwas gegen ihn in der Hand?«
    »Sie meinen, ob er ihn erpresst?«
    »Schuldet Alexander ihm einen Gefallen oder so? Oder weiß Mischa etwas über ihn?«
    Viktor warf mir einen amüsierten Blick zu. »Über eine Geliebte, meinen Sie?«
    »Oh, das würde ich nie …«
    »Darauf wäre ich gar nicht gekommen«, sagte er. »Aber … nein. Ich denke nicht, dass Besetows Geheimnisse sexueller Natur sind. Dann wäre er wahrscheinlich ein besserer Chef.«
    »Aber warum dann das Bündnis mit dem Wahren Russland?«
    »Darüber darf ich mit Ihnen nicht sprechen«, sagte Viktor gutgelaunt. »Aber ich habe einen Vorschlag. Nächste Woche ist er auf einer Kundgebung. Am Samstag. Am Gostiny Dwor.«
    »Ich weiß.« Ich hatte in den Nachmittagsstunden zwischen Lesen und Schlafen, die ich mit ziellosen, trüben Wanderungen durch die Stadt verbrachte, die Plakate gesehen. »Versammlung der Unzufriedenen« stand darauf. Dazu waren die winzigen Flaggen und Symbole verschiedener Interessengruppen abgebildet, die mir teilweise vertraut waren – Umweltschützer waren dabei, Menschenrechtler, Wirtschaftsliberale, Marktregulierer und viele, die mir überhaupt nichts sagten –, und ich fand es interessant, in einer einzigen Demonstration so eine Bandbreite politischer Splittergruppen versammelt zu sehen. In der Mitte des Plakats war ein Bild von Alexander Besetow: Er starrte mir angewidert entgegen, als wüsste er schon, dass ich vorhatte, ihm auf die Nerven zu fallen. Über ihm war in surrealen Farben ein verzerrter, durchgestrichener Putin abgebildet. Sein spitzes, reptilienhaftes Gesicht trug den Ausdruck fortwährender Missbilligung.
    »Da sollten Sie hin«, sagte Viktor, »und wieder dieses Top anziehen.«
    Mir dämmerte allmählich, dass er mit mir flirtete. Ich bin wirklich schlecht darin, so etwas wahrzunehmen. »Soll ich mich da wieder an Sie wenden?«
    »An mich? Nein, bloß nicht. Mit mir reden Sie überhaupt nicht mehr. Mir können Sie nichts vormachen, aber Alexander ist eben,sagen wir mal, vorsichtig. Dieses Gespräch hat nie stattgefunden. Ich darf mich mit Leuten wie Ihnen gar nicht treffen.«
    »Mit Frauen?«
    »Sehr witzig.«
    »Amerikanern?«
    »Schon wärmer.«
    »Wen soll ich dann ansprechen?« Mir wurde klar, dass Viktor mir möglicherweise kein

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