Das Leben ist groß
Wort geglaubt hatte, und dann kam ich zum ersten Mal auf die Idee, mich zu fragen, ob es klug sei, ihm zu glauben.
Viktor beugte sich vor. »Wenden Sie sich an Nina. Die Ehefrau. Sie hat rotes Haar. Sie können sie gar nicht verfehlen.«
»Okay.«
»Die können Sie um einen Termin bitten.«
»Sie sind der PR-Mensch, und Sie raten mir, bei einer Kundgebung seine Frau zu belästigen?« Genau das hatte ich vermeiden wollen.
»Sie fühlt sich wichtig, wenn sie Dinge arrangieren kann«, sagte Viktor. »Sie gibt Ihnen bestimmt einen Termin.«
»Wie ist sie so?«
Er blickte hoch. »Wieso? Sind Sie auf ihre Stelle aus?«
Mir klappte der Mund auf. Ich klappte ihn wieder zu. »Nein. Nein. Natürlich nicht.«
»Es wäre nicht gerade professionell, mich über die Frau meines Vorgesetzten zu äußern.«
»Nein. Natürlich. Tut mir leid, dass ich danach gefragt habe.«
»Aber meine ganze Karriere beruht darauf, berufliche Grenzen zu überwinden. Also kann ich sagen, dass sie … dass sie ihn nicht glücklich macht.«
Ich verdrehte die Augen. Dieses Thema langweilte mich jetzt schon. War sie vielleicht dominant? Beraubte sie ihn seiner Männlichkeit? War sie geschmacklos? Ich wollte nichts mehr von den Defiziten irgendwelcher Ehefrauen hören, nie mehr, und war plötzlich froh, dass ich nie eine werden würde.
»Was ist?«, fragte Viktor.
»Ach, ich weiß nicht. Jemanden glücklich zu machen ist heutzutage ganz schön viel verlangt.«
»Finden Sie?« Er sah mich an, fiel mir auf, wie Männer mich damals angesehen hatten, als sie das noch taten. Im College hatte es eine kurze, komische Phase gegeben, in der man mich für tiefgründig hielt. Die Leute meinten damit nur, dass mein Gesicht beim Zuhören nicht besonders lebhaft wirkte. Ich merkte, wie Viktor Dawidenko anfing, mich für eine Art Rätsel zu halten, und das kann nicht gutgehen – nicht einmal deshalb, weil Leute dieses Rätsel lösen, sondern weil sie herausfinden, dass es gar nicht viel zu lösen gibt. Sich selbst durch die Augen eines anderen zu sehen ist, als würde man jemanden durch die lange unbesuchte eigene Wohnung führen. Teile der eigenen Persönlichkeit, die einem selbstverständlich geworden sind, wirken wie Souvenirs aus einer Zeit, an die man sich nur ungern erinnert. Ach, das alte Ding?, würde man am liebsten von seinem unnützen Wissen, seinen politischen Ansichten, seinem Körper sagen. Habe ich in Barcelona für vier Euro gekauft. Das ist gar nicht echt. Dieser Witz? Den reiße ich ständig. Der langweilt dich bald. Mich langweilt er. Aber das weiß der neue Bekannte noch nicht, und man hat nicht wirklich vor, es ihm zu erzählen.
»Und Sie?«, fragte ich.
»Und ich was?«
Mir fiel auf, dass ich nicht wusste, was ich eigentlich fragen wollte. »Was … motiviert Sie? Glauben Sie an Besetow?« Ich fragte leichthin, obwohl ich verzweifelt auf ein Ja hoffte.
»Ja.« Er beugte sich vor. »Das tue ich.«
»Warum?«
»Warum? Die Dame fragt warum. Weil es etwas bewegen wird, im Wesentlichen. Ich glaube schon, dass es etwas bewegen wird. Denken Sie an den einundneunziger Putsch, wie da die Demonstranten nicht mit Gewalt vertrieben werden konnten, weil es einfach zu viele waren. Es ist ein gewaltiges Land. Er wird nicht gewinnen.Natürlich wird er nicht gewinnen. Aber ich glaube, dass er etwas in Bewegung setzt.«
In diesen Worten fand ich endlich den spezifischen Grund für mein unbestimmtes Hingezogensein: Hier war jemand, der daran glaubte, dass Alexander etwas bewegen konnte. Vielleicht hatte ich mich schon vorher zu Viktor hingezogen gefühlt, aber jetzt ließ sich dieses Gefühl auf etwas ganz Konkretes, Eigennütziges zurückführen: eine gemeinsame Vision.
»Haben Sie zu Hause jemanden?«
»Hatte ich.«
»Dann haben Sie ihn verlassen?«
»Habe ich.«
»Für das hier?«
Ich ließ meine Zunge über die untere Zahnreihe gleiten und spürte die Unebenheiten, die in den letzten Jahren wiedergekommen waren. All diese Kieferorthopädie, so eine Investition, und wofür? Aber ich wusste, dass dieser Gedanke es nicht wert war, weiterverfolgt zu werden. Wenn man so darüber nachdachte, konnte man alles – das ganze Leben – als Abfolge unnützer Vorbereitungen ansehen. Warum treiben wir Sport, und warum essen wir jeden Tag die erforderlichen Unmengen Gemüse? Und warum sind wir so eitel, was unseren Körper oder unser Hirn angeht oder worauf wir uns sonst so viel einbilden? Und warum schluchzen wir eine Woche lang, weigern uns zu
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