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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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nicht, dass Peter Pawlowitsch seine Worte freundlich meinte. Doch er hatte niemanden sonst, dem er das hier sagen konnte – das hier oder sonst irgendetwas.
    »Ich weiß es nicht«, sagte er. Die Fensterscheibe kühlte seine Stirn; sie vermittelte ihm ein Gefühl beruhigender, pragmatischer Gegenwart. Alexander dachte kurz an seine Mutter. »Ich weiß nicht, wofür es gut war.«
    Peter Pawlowitsch schwieg. »Bist du angezogen? Es wird Zeit für die Fotos.«
    »Was für Fotos?«
    »Mit dem Pokal natürlich.« Peter Pawlowitsch schniefte grausam. »Ein Familienportrait.«

KAPITEL 12
    Irina
    St. Petersburg, 2006
    Und so zog ich, als mir nichts Besseres einfiel, mein einziges tief ausgeschnittenes Top an und ging in die Prawda-Bar. Drinnen war die Atmosphäre unerbittlich schmuddelig; die Luft war trüb vor Staub und von einer halsstarrigen Verdorbenheit, die fast schon wieder erfrischend wirkte. Ich rutschte auf einem Barhocker hin und her, trank Weißwein, buchstabierte mir die Worte in der Kommersant vor und musterte potentielle Kandidaten für Viktor Dawidenko,wenn sie zur Tür hereinkamen. Es fühlte sich dekadent, verdorben, krankhaft an, vor Einbruch der Dunkelheit zu trinken. Ich trommelte mit den Fingern auf dem Tresen. Dafür war ich schließlich hergekommen, oder? Um in Bars herumzusitzen und auf wildfremde Männer zu warten? Eigentlich war es nicht ganz das, was mir vorgeschwebt hatte.
    Nach mehreren Fehlalarmen kam der Mann herein, der Viktor Dawidenko sein musste. Er war recht groß, knapp eins neunzig vielleicht, eine Körpergröße, die je nach der eigenen Einstellung gewaltig oder beinahe normal wirken konnte. Er trug einen Bart, was ich ihm gar nicht mal übelnahm. Ich fragte mich, ob jemand, der nach mir suchte, Schwierigkeiten hätte, mich zu erkennen. Oder war ich in der ganzen Bar die einzige Kandidatin für mich selbst? Das mochte ich nicht glauben; ich wollte lieber denken, ich könnte jede Beliebige sein. Aber dann sah ich mich um – sah die Kampflesben, die Femmes fatales mit ihren dicken Schutzschichten aus Augen-Make-up, und musste den Tatsachen ins Gesicht sehen. Ich war weit und breit die einzige, die nervös und wohlerzogen aussah, und hätte jemand nach mir gesucht, er hätte mich sofort entdeckt.
    Ich trat zu Viktor Dawidenko an den Tisch. Ich verschränkte die Arme und ließ sie wieder sinken. Dann sprach ich ihn an.
    »Ja?« Seine Stimme klang ein wenig rau, ein wenig mürrisch, ganz so, wie man es sich vorstellen würde. Er hatte vorspringende Brauen und darunter erstaunlich blaue Augen. Sein Haar war gelockt und offenbar kaum zu bändigen.
    Ich stellte mich vor. Er musterte mich von oben bis unten, wie Mischa es vorhergesagt hatte.
    »Sind Sie Journalistin?« Er hatte auf Englisch umgeschwenkt. Sein Akzent, das war selbst an diesem einen Satz zu hören, war eine komplexe Angelegenheit, zu der etliche Erfahrungen und Existenzen und höhere Lehranstalten beigetragen hatten.
    »Nein.«
    »Bloggen Sie?«
    »Nein.«
    »Sind Sie in den sozialen Medien aktiv?«
    »Eigentlich nicht, nein.«
    Er seufzte. Es war ein zutiefst betrübter, gequälter, demonstrativer Seufzer, und ich mochte ihn sofort dafür.
    »Kann ich trotzdem kurz mit Ihnen sprechen?« Eine leichte Panik stieg in mir auf. Dies war meine erste Begegnung mit einem Vertreter von Besetows eigentlichem Team, und ich scheiterte kläglich daran, zu sagen, was ich zu sagen hatte.
    »Meinetwegen.«
    »Wann denn? Soll ich in Ihr Büro kommen?«
    »Büro? Ah. Nein. Wie wäre es jetzt gleich?«
    Das kam mir ein wenig unprofessionell vor, auch wenn man meine eigenen Gründe, hier zu sein, nicht ganz – nicht einmal teilweise – professionell nennen konnte. Allerdings hatte ich im Laufe der letzten Monate begonnen, meine Suche nach Alexander Besetow als eine Art Job zu betrachten – ich drückte mich jedenfalls davor wie vor der Arbeit, und ich stellte mich ihr mit Stressgefühlen, gelegentlichem Pflichtgefühl und erheblichem Widerwillen.
    »Ja«, sagte ich. »Okay.«
    Er nahm meine Hand, und einen kurzen, absurden Augenblick lang dachte ich, er würde sie küssen.
    »Viktor Dawidenko«, sagte er und ließ meine Hand los. »Bitte setzen Sie sich.«
    Das tat ich. In seinem Auftreten war eine Vornehmheit, die mir fast ein bisschen albern vorkam, aber zugleich sehr reflektiert. Ich richtete mich auf, um für die Darbietung, die mich erwartete, gerüstet zu sein. Viktor bestellte drei Wodka, was ich beeindruckend und beängstigend fand,

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