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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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abgereist, beglückt, dass seine Arbeit getan war und er zu seiner albernen Verlobten zurückkehren würde – Galina, hieß sie nicht so? Alexander wurde bewusst, dass er nie danach gefragt hatte. Er stand auf. Auf dem Fußboden hatte Dimitri ein paar verstreute Habseligkeiten hinterlassen, die angesammelten Kleinigkeiten seines halben Jahrs als besserer Hausdiener auf der Flucht. Stifte und Kleiderbügel waren darunter und rätselhafte Zettel – Quittungen für Einkäufe, an die Alexander sich nicht erinnern konnte, obwohl sie immer zusammen gewesen waren. Wer war Dimitri? Wo war er jetzt? Warum ging er nicht ans Telefon?
    Einen kurzen, erhebenden Moment lang überlegte Alexander, wer wohl anrief, um ihm zu gratulieren – am wahrscheinlichsten seine Mutter, wenngleich sie in letzter Zeit meistens wartete, bis er sie anrief. Ein Kommilitone von der Schachakademie war es eher nicht; ihre unverhohlene Missgunst hatte ihm etwas ausgemacht, als er noch das Gefühl hatte, Besseres verdient zu haben. Jetzt kam sie ihm angemessen vor. Er fragte sich nicht, ob es Elisabeta sein könnte, denn er dachte nicht mehr an sie.
    Das Telefon klingelte weiter. Er wusste – und eigentlich hatte er es von Anfang an gewusst –, dass es nur einer sein konnte.
    Peter Pawlowitsch schniefte glücklich in den Hörer. »Herzlichen Glückwunsch, mein Freund«, sagte er.
    »Ihnen habe ich das nicht gerade zu verdanken.«
    »Gerade mir, wenn du mal darüber nachdenkst.«
    »Tue ich nicht.«
    »Wie fühlt es sich an?«
    Alexander trat ans Fenster und blickte in das Morgengrauen hinaus. Der Tag sah jetzt schon aus wie ein Requiem. Ein ekelhafter Geschmack haftete in seiner Kehle. »Nach gar nichts. Es fühlt sich nach gar nichts an.«
    »Komm schon. Sei nicht so verbittert.«
    »Es fühlt sich an wie immer.«
    »Tut es nicht.«
    Peter Pawlowitsch hatte recht. Es fühlte sich nicht an wie immer.Jetzt, da er bekommen hatte, was er wollte, hatte Alexander sein ganzen Leben gerechtfertigt – jede einsame und egoistische und seltsame kindliche Marotte, den Mangel an Freundschaften, den Mangel an Liebesbeziehungen. Den Entschluss, mit der Flugschrift aufzuhören, den Entschluss, sich die vergangenen vier Jahre lang mit diesen Leuten abzugeben und jede importierte Delikatesse zu schlucken, die sie ihm auftischten. Alles hatte sich gelohnt; alles ergab einen Sinn. Er war quer durch ein gewaltiges Land seinem Ego nachgejagt, und hier, in Moskau, im Hotel Sport, hatte er es endlich eingeholt. Er war für den Augenblick der beste Schachspieler der Welt – auch wenn mit jeder Minute der Tag näherrückte, wo dem nicht mehr so war, und wer konnte schon sagen (selbst jetzt, in eben dieser Sekunde), ob es nicht irgendwo auf der weiten Welt jemanden gab, der ihn schlagen konnte? Ein manisches, prophetisches Genie in irgendeiner Höhle vielleicht oder eine bessere Version seiner selbst in einem Paralleluniversum, die es nicht über sich gebracht hatte, so viele Kompromisse zu machen wie er. Es war ein bitterer Sieg – damit hatte er gerechnet. Wie seltsam, dass er sich zugleich so flüchtig anfühlte. Alexander sah zu, wie der Minutenzeiger zuckend über das Ziffernblatt zurückwich, und fragte sich mit jedem Augenblick: War er jetzt wirklich Weltmeister? War er es jetzt ? Man konnte es nie wissen. Seltsam, dass er daran nie gedacht hatte, als er entscheiden musste, ob er den Rest seines Lebens gegen diese Chance eintauschen sollte. Er konnte sich seines Erfolges nie sicher sein. Selbst wenn er wirklich der Weltmeister war, war der Mann, der ihn einmal besiegen würde (und natürlich wäre es ein Mann), zweifellos schon geboren – er schrieb schon Aufgaben in den Sand oder riss Schachrätsel aus der Zeitung aus oder starrte stundenlang die Wände an. Er war schon einsam. Seine Eltern machten sich schon Sorgen um ihn. Sie sahen in ihm schon die Anlagen zu Größe oder Wahnsinn oder zu beidem zugleich; sie sahen, wie ihr Kind einen Keil in die Welt trieb und eine Kluft aufriss, in der er einmal gesalbt und gepriesen sitzen würde, wenn Alexander alt und vergessen war.
    »Bist du noch da?«, fragte Peter Pawlowitsch.
    »Ich weiß es nicht.«
    »Jetzt werd nicht philosophisch.«
    Draußen wandten die Blätter an den Bäumen ihre blasse Unterseite nach oben. Es sah aus, als wollten sie sich ergeben.
    »Du hast dein Leben lang auf diesen Moment hingearbeitet. Du solltest radschlagen vor Freude. Wofür war denn alles gut, wenn nicht dafür?«
    Alexander glaubte

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