Das Leben ist kein Spiel -kleine Bilder
verlieren werde. Ich hatte schon damals ein ausgeprägtes Selbstvertrauen und wirklich nichts zu verlieren. So bin ich in jedes Spiel gegangen. Serve and volley. Volles Risiko. Bum-Bum-Boris. Mein härtester Aufschlag wurde damals mit 242 km/h gemessen. Heute schlagen die Profis in der Regel mit 210 oder 215 km/h auf. Ich war so fokussiert auf den Titel, dass mich 1985 niemand schlagen konnte, und bin mir sicher, dass ich in der damaligen Form auch heute noch einige Spieler von Weltrang ganz schön ärgern könnte.
Sämtliche Wimbledon-Champions sind auf dieser rasengrünen Tafel verewigt. Mein Name steht zum Glück auch ein paar Mal da drauf
© Michael Wilfing
Mit meinem ersten Wimbledon-Sieg hat sich mein Leben grundlegend verändert. Das war schon der Hammer! Ich war über Nacht nicht nur in Deutschland, sondern auf der ganzen Welt ein bekannter Mensch geworden – wie ein bunter Hund, auf Schritt und Tritt unter Beobachtung. Für Interviews wurden mir bis zu 100.000 Mark bezahlt. Damit musst du als 17-jähriger Bursche erst einmal klarkommen. Ich erlebte von einem auf den anderen Tag den kompletten Verlust meiner Privatsphäre. Mein großer Vorteil war, dass ich die Dinge genossen und dem medialen Aufruhr – damals – nicht allzu viel Bedeutung beigemessen habe. Ich nenne den 7. Juli 1985 immer meinen »zweiten Geburtstag«. Es gab ein Leben vor und eines nach diesem Tag. Es gab auch viele, viele Tage, wo ich mir gewünscht hätte, dass ich meinen ersten Wimbledon-Sieg nicht mit 17, sondern vielleicht erst mit 20 eingefahren hätte. Es war ein hoher Preis, den ich dafür habe zahlen müssen.
Schaut mal, das bin ich! Mein erster Triumph in Wimbledon am 7. Juli 1985
© Michael Wilfing
Wimbledon hatte immer und hat immer noch ein ganz besonderes Flair. Und das hat mit England und den Engländern zu tun. Die haben einfach Stil. Es war immer sehr angenehm, auf diesem heiligen Grün zu spielen. Die Briten sind während der Ballwechsel mucksmäuschenstill, klatschen erst hinterher und brüllen nicht dazwischen wie andernorts. Wimbledon-Zuschauer zeichnen sich dadurch aus, dass sie fair, respektvoll und eben kultiviert sind. Die Berichterstattung in den dortigen Boulevardzeitungen, tabloids genannt, steht dazu im krassen Gegensatz. Da wird mit wirklich harten Bandagen gekämpft. Sie schrieben vom »Blitzkrieg« und erfanden das »Bum-Bum-Boris«. Im Vergleich zur Sun ist die BILD -Zeitung ein Kirchenblatt. Die englische Yellow Press machte seinerzeit aus mir den brutalen, kalten und aggressiven Teutonen. Nun ja, ich sah ja auch ziemlich deutsch aus. So ein bisschen, wie sich Otto Normalverbraucher eben den jungen Siegfried vorstellt. Im Lauf der Jahre hat sich das Verhältnis aber normalisiert, und es wurde mit Respekt und Anerkennung über mich berichtet.
Ich werde in England mittlerweile mehr als Londoner denn als Deutscher gesehen. Die Engländer haben mich als einen der Ihren adoptiert. Das erfüllt mich mit Stolz. Zwei meiner Kinder sind in London geboren, zwei in München. Also auch familiär gesehen ist London ein ganz wichtiger Ort geworden. Außerdem: Die Hauptsprache der Familie Becker ist Englisch. Unser Leben hier hat sich über die Jahre hinweg sehr natürlich entwickelt. Wenn ich mich in England nicht von Anfang an wohlgefühlt hätte, hätte ich wahrscheinlich hier auch nie gewonnen. Lange hatte ich eine Zweitwohnung in der King’s Road, wo ich immer wieder hingeflogen bin, um meine Batterien aufzuladen. Hier durfte ich immer in Ruhe Mensch sein, und das habe ich sehr geschätzt.
Ich liebe die Vielfalt der Weltstadt London, die verschiedenen Religionen, die Kulturen, die Hautfarben, die Sprachen, die Traditionen, die Museen, die Restaurants, die Märkte, die verschiedenen Viertel, das ganze multikulturelle Chaos dieser coolen Stadt. Auch meine Frau Lilly fühlt sich hier pudelwohl. Hier erlebt man jeden Tag sehr anschaulich, was melting pot bedeutet. Hier haben wir einen großen und gewachsenen Freundeskreis. Hier haben wir Wurzeln geschlagen, und hier wollen wir zusammen alt werden. Mein Sohn Amadeus hat einen deutschen, einen holländischen und bald auch einen britischen Pass. Meine Tochter Anna hat natürlich auch einen britischen Pass. Hier darf ein Millionär ruhig in seiner Nobelkarosse vorfahren. Hier darf der Fußballstar in seinem Ferrari herumkurven. Es wird einem nicht geneidet, dass man sich aufgrund des Erfolgs einfach etwas mehr leisten kann. Hier gibt es so viel altes Geld, dass
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