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Das Leben kleben

Das Leben kleben

Titel: Das Leben kleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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auserwählt wurde, und den anderen, der zurückblieb.
    Hätte ich bloß Mrs. Shapiros Gabe, in der Gegenwart zu leben, dachte ich, als ich auf dem Heimweg an den grünenden Vorgärten vorbeikam; Bäume, Büsche, Gras, Unkraut - alles erwachte zum Leben. Kurz vor meiner Straße streckte eine Weide ihre silbrigen Knospen durch einen Zaun. Gedankenlos brach ich einen Zweig Weidenkätzchen ab, und mir kamen die Sträuße von Salweiden und Weidenkätzchen in den Sinn, die wir früher in Kippax gesammelt hatten, um unser Klassenzimmer zu schmücken. Bald war Ostern. Ich erinnerte mich an Mrs. Rowbottoms Geklimper auf dem Klavier und unsere dünnen, unsicheren Stimmchen, wenn wir sangen:
    Auf einem grünen Hügel, weit von hier, weit von den Mauern der Stadt, da ward unser lieber Herr gekreuzigt, der für unsere Rettung starb.
    Welche Angst mir diese Hymne als Kind gemacht hatte. Sie entwarf ein krasses Gegenbild zur glücklichen Welt der Osterhasen und bunten Ostereier. Und heute wusste ich etwas, was ich damals nicht gewusst hatte, nämlich dass jene Hügel überhaupt nicht grün waren - sie waren steinig und öde. Und über die Jahrhunderte waren so viele Mauern gebaut und eingerissen und wieder aufgebaut worden, dass selbst der Zeit der Überblick verloren gegangen war, was wem gehörte.
    »Dort hing er und litt.«
Ja, die Geschichte dieses Ortes triefte vor Grausamkeit. Mrs. Rowbottom hatte die Details der Kreuzigung zu überspielen versucht. Aber als ich meinen Vater fragte, sagte er: »Krieg und Religion - beide haben einen unstillbaren Durst nach menschlichem Blut. Sie ernähren sich voneinander wie Nocker.«
    Mama verdrehte die Augen. »Jetzt geht das wieder los.« »Was?«
    »Dennis, sie ist erst neun.«
    Ich fand nie heraus, was Nocker waren.
    Mama wartete am Ostersamstag immer bis kurz vor Ladenschluss, bevor sie Schokoladeneier für uns kaufte, denn dann wurden die, die noch da waren, auf den halben Preis herabgesetzt.
    »Wofür kaufst du überhaupt die teuren Eier, Jean?«, fragte Papa. »Wir gedenken einer Hinrichtung, wir feiern keinen Geburtstag.«
    Doch er aß sie trotzdem. Er hatte eine Schwäche für Schokolade.
     

40 -
Cyanoacrylat AXP-36C
    Eigentlich hatte ich am Sonntag das schöne Wetter nutzen und mich im Garten betätigen wollen - mir die Finger schmutzig machen, dem hässlichen gefleckten Lorbeerstrauch zu Leibe rücken und die fetten braunen Nacktschnecken einsammeln. Doch irgendwie kam ich den ganzen Tag nicht vom Telefon los, und jedes Telefonat regte mich mehr auf.
    Der erste Anruf kam um neun (am Sonntagmorgen - unglaublich!), es war Ottoline Walker, die rotmundige Schlampe.
    »Hallo? Georgie Sinclair? Bist du das?«
    »Wer ist da?« Ich hatte ihre Stimme längst erkannt.
    »Ich bin es. Ottoline. Wir kennen uns. Erinnerst du dich?«
    Und ob ich mich erinnerte. Der Bananenpopel. Haha. »Ja, ich erinnere mich. Warum rufst du an?«
    »Es geht um Rip.« (Klar, um wen sonst?) »Ich wollte dir nur sagen, dass ich keine Ahnung hatte, dass ihr noch ... irgendwie ... involviert seid.« »Irgendwie verheiratet, um genau zu sein.«
    »Er hat mir gesagt, zwischen euch wäre es schon seit Ewigkeiten vorbei. Er hat gesagt, es würde dir nichts ausmachen.«
    »Mir hat er gesagt, er würde die Entwicklung der Menschheit vorantreiben.«
    »Oh. Ich verstehe.« Am anderen Ende der Leitung war es still, während sie an einer Antwort bastelte. »Hör zu. Es tut mir wirklich leid. Das verändert die Sache natürlich. Ich meine, wenn man verliebt ist, tut man nicht immer das Richtige ... man denkt nicht an die Konsequenzen, die es für andere hat.« Sie machte eine Pause. Ich sagte nichts. »Ich glaube an Verantwortung in einer Beziehung, verstehst du?«
    »So wie bei dir und Pete? Oder eher wie bei dir und Rip?«
    »So meine ich es nicht. Das klingt schrecklich.«
    »Ehrlich gesagt ...« Doch ich hielt mich zurück. Ich gönnte ihr nicht die Befriedigung, zu wissen, wie sehr sie mich verletzt hatte.
    »Ben weiß nichts davon, wenn du dich das fragst.«
    »Was ist mit Pete? Weiß er es?« Fast hätte ich »das Muskelpaket« gesagt.
    »Er hat es rausgefunden. Der arme Pete. Es war schrecklich. Er wollte sich umbringen. Und dann wollte er Rip umbringen.«
    Sie klang, als schniefte sie, aber vielleicht bildete ich es mir nur ein. Einen Moment lang tat sie mir leid.
    »Von Rip kannst du keine Verantwortung erwarten. Er fühlt sich nur für sein Zukunftsprojekt verantwortlich.«
    In der Leitung herrschte Stille. Im

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