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Das Leben kleben

Das Leben kleben

Titel: Das Leben kleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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stehlen.«
    Da hatte sie allerdings recht. Doch bevor ich mich womöglich in einen Plan hineinziehen ließ, wie man Wonder Boy ins Krankenhaus schmuggeln könnte, wechselte ich schnell das Thema. Ich dachte, ein paar Erinnerungen an früher würden sie beruhigen, weil sich alte Leute häufig in der Vergangenheit mehr zu Hause fühlten als in der Gegenwart. Und ich war neugierig, wie die Geschichte endete, die sie beim Fischessen begonnen hatte.
    »Sie haben mir die Geschichte von Artem nie zu Ende erzählt. Wie er nach England gekommen ist. Wie Sie sich kennengelernt haben.«
    Sie ließ mein Handgelenk los und sank zurück in das Kissen. »Das ist eine lange Megillah, Georgine.«
    »Sie sagten, er war in den Wald gelaufen, um sich den Partisanen anzuschließen.«
    »Ja, in Naliboki. Fast sechs Monate lang lebte er bei den Pobeda-Partisanen.«
     
    Schlomo Sorin und seine Pobeda-Bande hatten nach dem Vorbild der Bielski-Partisanen auf einer Lichtung in den großen Naliboki-Wäldern in Weißrussland ein Familienlager aufgeschlagen. Sie nahmen alle Juden auf, die es so weit schafften, und schickten sogar Kundschafter in die Ghettos zurück, um Fluchten zu organisieren. Mit Hilfe von gestohlenen Papieren übernahm Artem Shapiro mehrere dieser Missionen; das hellbonde Haar, das er von seinem Großvater geerbt hatte, half ihm dabei, als Christ durchzugehen.
    »So ein schöner Blondschopf war er. Er konnte sich leicht durchschmuggeln.« Mrs. Shapiros Stimme zitterte. »Und so machte er sich eines Tages auf die Reise zurück nach Minsk.«
    Anfang Herbst, bevor der erste Schnee fiel, als im Wald noch reichlich Essbares zu finden war, machte sich Artem auf die Suche nach seiner Mutter und seinen Schwestern, die er durch den Wald in die Freiheit holen wollte. Doch als er ankam, wirkte das Ghetto in Minsk wie eine Geisterstadt, bevölkert von wandelnden Gerippen, die, den Tod in den Augen, durch die ehemals so vertrauten Straßen schlurften. Von einem früheren Nachbarn erfuhr er, dass seine Mutter tot war -verhungert oder vielleicht an gebrochenem Herzen gestorben, kurz nachdem man ihn weggebracht hatte. Eine seiner Schwestern war an Typhus gestorben. Was aus der anderen geworden war, wusste niemand. Manche sagten, sie sei nach Auschwitz gebracht worden; andere sagten, sie habe mit den Goldzähnen der Mutter einen örtlichen Banditen bestochen und sei entkommen: »Nach Schweden. Oder vielleicht nach England.«
    Nach dem Besuch in Minsk zerbrach etwas in Artems Herz. Die Musik starb. Tag und Nacht erfüllte ein schrecklicher Klagechor seinen Kopf, und er konnte weder schlafen noch arbeiten noch denken. In einer Zeit, in der Kampfgeist lebenswichtig war, spürte er, wie er im Pobeda-Lager zur Belastung wurde, weil er mit seinem Elend auch die anderen schwächte. Eines Morgens, nach einer Nacht voller heulender Alpträume, schleuderte er seine Geige gegen einen Baum. Dann verabschiedete er sich von Sorin und brach nach Osten auf, durch die stillen, verschneiten Wälder in Richtung seines Geburtsorts Orscha. Vielleicht hoffte er, Überlebende seiner Familie zu finden. Doch als er im Frühjahr 1942 ankam, war das Ghetto von Orscha längst ausgelöscht. Tausende Juden waren erschossen worden, und die restlichen hatte man in Güterzüge getrieben.
    »Sie haben sie in die Züge geladen, aber nirgendwohin gebracht. Sie wurden auf dem Wartegleis vergiftet, in den Waggons. Die russischen Gefangenen haben ein Massengrab ausgehoben und sie begraben.« Sie schwieg. Ihr Atem ging langsam und rasselnd. »Sie wollten uns wirklich alle umbringen.«
    Artem kehrte nicht zu Sorin zurück. Inzwischen war er von solchem Zorn besessen, dass ihm das nackte Überleben im Wald nicht reichte. Der Klagechor zog sich zu einem einzigen langen Geheul zusammen, dem Geheul eines verwundeten Tiers, das bereit war zu töten. Er ging nach Norden, um sich einer Gruppe russischer Partisanen anzuschließen, die während der Belagerung Leningrads die deutsche Armee bedrängten. Bei seinem ersten Überfall auf einen deutschen Kübelwagen, den sie mit einem gefällten Baum aufhielten, verhöhnte er die Deutschen mit wilder Euphorie: »Ich bin der ewige Jude!«
    »Lass den Quatsch!«, brüllte Velikow, der Anführer der Einheit. »Schieß einfach!«
    Die Partisanen versuchten eine Versorgungslinie in die belagerte Stadt einzurichten. Es war eine gefährliche Mission, denn die Deutschen hatten Leningrad und den finnischen Korridor fast vollkommen im Griff, doch Anfang

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