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Das Leben kleben

Das Leben kleben

Titel: Das Leben kleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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1943 hatte Merezkow die Front von Osten herangebracht, und ab und zu kamen wieder Versorgungsgüter durch. Artem war bei einer Gruppe von Partisanen, die auf einem Schlitten Kartoffeln und Rüben über den gefrorenen Ladogasee schmuggelten, als sie von einer deutschen Patrouille beschossen wurden. Seine drei Kameraden waren sofort tot, genau wie das kurzbeinige mongolische Pony, doch Artem wurde nur an der Schulter verwundet. Er wusste, im Winter über das Eis zu fliehen bedeutete den sicheren Tod; stattdessen kletterte er auf den Schlitten, versteckte sich unter den Wolfsfellen, die die Rüben bedeckten, und wartete sein Schicksal ab. Entweder die Deutschen nahmen ihn gefangen oder die Russen retteten ihn oder er erfror. Jeder wusste, dass Erfrieren ein angenehmer schläfriger Tod war. Wenigstens würde er nicht verhungern, dachte er. Er wartete und lauschte und versuchte die Blutung der Wunde mit einem um einen Eisbrocken gewickelten Stück Stoff zu stillen. Er konnte Schüsse und Rufe hören, doch sie schienen nicht näher zu kommen, sondern sich zu entfernen. »Dann fing es zu schneien an.«
    Er wurde bewusstlos oder schlief ein, denn er wusste nicht mehr, wie lange er dort gelegen hatte, als er von einem heftigen Ruck des Schlittens zurück ins Bewusstsein gerissen wurde. Vorsichtig spähte er unter den schweren eingeschneiten Wolfsfellen hervor und sah, dass vor den Schlitten ein anderes Pony gespannt worden war, das im tobenden Schneesturm über das Eis trottete. Über und hinter ihm saßen zwei Männer, die sich unterhielten. Er hörte sie lachen und roch Zigarettenrauch. Sprachen sie deutsch oder russisch? Er konnte es nicht sagen.
    »Die ganze Zeit stapfte das Pony durch Schnee und Eis, und es schneite, und das Pony stapfte immer weiter durch den gefrierenden Schnee, und weiter und weiter über das Eis, und weiter und weiter ...«
    Sie verstummte. Ich wartete. Ich dachte, vielleicht waren die Erinnerungen zu schmerzhaft für sie. Aber nach einer Weile hörte ich ein leises Schnarchen und merkte, dass sie eingeschlafen war.
     
    »Wann, meinen Sie, kann Mrs. Shapiro wieder nach Hause?«, fragte ich die Schwester auf dem Weg zum Ausgang.
    »Das können wir noch nicht sagen. Sehen wir, wie sie sich erholt«, antwortete sie, ohne aufzublicken.
    »Aber es ist nur das gebrochene Handgelenk, oder?«
    »Schon, aber wir müssen uns ein Bild von ihrer Wohnsituation machen. Wir wollen nicht, dass sie zu Hause gleich wieder hinfällt. In ihrem Alter kann es sein, dass sie in einem betreuten Heim besser aufgehoben ist.«
    »Warum, wie alt ist sie denn?«
    »Sie hat uns gesagt, sie sei sechsundneunzig.« Sie sah auf. Unsere Blicke trafen sich, und anscheinend bemerkte sie meine Überraschung. »Ist sie denn nicht Ihre Großmutter?«
    »Nein, sie ist nur eine Nachbarin. Ich wohne ein paar Straßen weiter. Ich kenne sie eigentlich nicht sehr gut.«
    Konnte Mrs. Shapiro wirklich schon sechsundneunzig sein? Aber warum sollte sie wegen ihres Alters lügen?
    »Noch ein Grund, warum es gut wäre, einen Ausweis von ihr zu sehen.«
     

8 - Biopolymere
    Wonder Boy lag auf der Veranda, als ich den Weg zu Canaan House hinaufging. Er riss gerade einem Vogel, den er erbeutet hatte, die Eingeweide heraus - ich glaube, es war ein Star. Er lebte noch und zappelte unter Wonder Boys Pfoten. Überall waren Federn. Als der Kater mich sah, flüchtete er in die Büsche, den flatternden Vogel in den Fängen. Der kann ganz gut für sich selbst sorgen, dachte ich. Eigentlich mochte ich Katzen, aber Wonder Boy war mir von Grund auf unsympathisch. Ich versuchte mir vorzustellen, ihn zu fangen, in eine Tasche zu stecken und im Bus mit zum Krankenhaus zu nehmen. Auf gar keinen Fall.
    Der Schlüssel, den mir Mrs. Shapiro gegeben hatte, gehörte zu einem ganz simplen Riegelschloss; jeder einigermaßen mitdenkende Einbrecher hätte einfach die Scheibe in der Tür einschlagen, die Hand durchstecken und von innen den Riegel öffnen können. Hinter der Tür hatte sich ein Stapel Post angesammelt. Als ich im Eingang stand, schlug mir Gestank entgegen, das stechende Odeur von Katzenpisse, Feuchtigkeit und Moder. Ich hielt mir das Taschentuch vor die Nase. Aus dem Nichts tauchte Violetta zu meinen Füßen auf, kläglich miauend. Das arme Ding - sie musste mindestens drei Tage im Haus eingeschlossen gewesen sein. Ich hob die Post auf und sah sie durch, für den Fall, dass irgendetwas Wichtiges dabei war, doch es schien alles nur Reklame zu sein. Sogar Werbung

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