Das Leben kleben

Titel: Das Leben kleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka

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meine Gedanken zur Polymerisation anvertrauen?
    »Ich mich auch. Ich habe darüber nachgedacht, was du gesagt hast ...« Ich dachte an seinen Neujahrswitz. Leimen und Nageln. Nein, das war kein guter Anfang. »Ich meine, die ganzen Jahre, am Telefon, über Klebstoffe. Für mich bist du so etwas wie ...« Nein, das war auch nicht gut. Ich wurde rot.
    »Professor Uhu?«
    »So ähnlich.«
    Dann stellte sich ein älterer Mann, den ich noch nicht bemerkt hatte, neben mich. Er war dünn und drahtig, hatte einen buschigen weißen Bart und ein Glas Rotwein in der Hand.
    »Willst du mich deiner jungen Dame nicht vorstellen, Nathan?«
    Ich bildete mir ein, einen Anflug von Irritation über Nathans Gesicht huschen zu sehen, doch er sagte nur: »Georgia, das ist mein Vater. Tati, das ist meine Kollegin Georgia.«
    »Georgia! Aha! Der Staat oder die Republik?«
    »Äh ...« War das ein Erdkunde-Quiz? Ich hatte zum letzten Mal mit vierzehn Erdkunde gehabt. Damals an der Gesamtschule in Garforth musste man zwischen Geschichte und Erdkunde wählen. Ich merkte, wie ich unter Nathans neugierigem Blick rosa anlief.
    Die Glocken von Big Ben retteten mich. Das Licht ging an. Korken knallten und alle hielten die Gläser hoch. Nathan griff sich eine Flasche und schenkte uns beiden ein. Ich trank einen großen Schluck, der mir direkt in den Kopf stieg. Der alte Mann stellte sein Glas weg, kreuzte die Arme, nahm mit überraschender Kraft meine linke Hand mit seiner Rechten und streckte die andere nach Nathans aus. Dann holte er tief Luft und begann zu singen.
»Should auld acquaintance be forgot
...« Es wurde still im Raum. »...
and never brought to wind...«
Seine Stimme war unerwartet tief und klangvoll. Was dann geschah, war ein bisschen wie Polymerisation - plötzlich griffen all die einzelnen Personenmoleküle, die sich durch den Raum bewegten, mit gekreuzten Armen nach den Händen ihrer Nachbarn und bildeten eine lange kovalente Kette. Bald hielten wir uns alle an den Händen und schunkelten und jeder küsste jeden. Ich bekam sogar einen kurzen Knutscher von Darryl. Das war schön. Dann zog Sheila ihn fort, und der alte Mann drängte sich rein und bedeckte mein Gesicht mit seinen Stoppeln. Er fing an, mich stürmisch zu küssen, ein stacheliger, würziger Kuss, der nach Chicken Vindaloo schmeckte. Ich kämpfte, doch sein Griff war fest. Nathan eilte zu meiner Rettung.
    »Frohes neues Jahr, Georgia«, murmelte er, als sei das unser besonderes Geheimnis. Einen Moment hielt er mich im Arm. Unsere Lippen trafen sich. Alles begann sich zu drehen. Doch der alte Mann klemmte sich dazwischen, in der Hoffnung auf noch eine Runde, und ich machte mich los, zog meinen Mantel aus dem Haufen im anderen Zimmer und verschwand wie der Blitz zur Tür hinaus.
    Es war unglaublich kalt. Ich begann zu laufen. Die Straßen waren voller Feiernder, und der Himmel war voller Sterne.

    Als ich heimkam, war das Haus ruhig, dunkel und warm. Ich machte kein Licht. Ich zog Mantel und Schuhe aus, legte mich aufs Bett und war beinahe sofort eingeschlafen. Als ich zwei Stunden später aufwachte, war mir kalt und ich hatte einen unangenehmen Geschmack im Mund, eine Mischung aus billigem Wein und Vindaloo. Ich dachte darüber nach, wie lange es her war, dass mich jemand geküsst hatte. Irgendwie hatte es mir gutgetan. Ich sollte mehr unter die Leute gehen.
    Ich wusch mir das Gesicht, putzte mir die Zähne, zog ein Nachthemd an und kroch wieder ins Bett. Ich versuchte Ben anzurufen, doch sein Handy war abgestellt. Bestimmt wäre es ihm zu peinlich gewesen, wenn seine Mama anrief. Im Einschlafen fragte ich mich, wo er war, und dachte an Silvester 1980 in Kippax, als ich mit Karl Curry geknutscht hatte. Wo der jetzt wohl war?
    Im Morgengrauen wachte ich wieder auf und ging in den Flur, um nachzusehen, ob Ben zurück war. Die Vorhänge waren zu und das Licht war aus. Es roch stickig nach Schlaf und alten Socken. Doch er lag nicht in seinem Bett. Ein rotes Licht blinkte an seinem Computer - es war der Bildschirmschoner, ein grelles, geometrisches schwindelerregendes Muster aus weißen und roten Spiralen. Ich wollte den Computer ausstellen, doch als ich die Maus berührte, erwachte die Seite, die er sich zuletzt angesehen hatte, zum Leben.
    Es war die gleiche rote Schrift auf schwarzem Hintergrund wie beim letzten Mal. Diesmal lautete das einzelne Wort, das in dem tanzenden Flammenkreis blinkte,
Antichrist.
Was für einen Müll sah er sich da an? Aus Neugier drückte ich