Das Leben kleben
wehrlosen alten Frau in ihrem eigenen Haus solche Angst einzujagen, war kaum zu fassen. »Am besten, Sie lassen das Glas reparieren und gleich heute das Schloss auswechseln. Sie sollten Mr. Ali anrufen. Es sei denn, Sie kennen einen anderen Handwerker.«
Sie fing an, in ihren garstigen Schränken nach dem Teichwassertee zu suchen. Mir hatte sie den Rücken zugewandt.
»Kleiner Clever-Knödel, dieser Paki«, murmelte sie.
In mir tobte die Schlacht zwischen Ärger und Sorge, und der Ärger gewann allmählich die Oberhand. Sie goss heißes Wasser in eine Kanne und hängte einen schlaffen, gräulichen Teebeutel an der Schnur hinein. Nach einem Moment sah sie zu mir auf und sagte: »Aber ich glaube, ich rufe Mr. Wolfe an. Meinen Nicky.«
Dann schenkte sie mir ein verschlagenes kleines Lächeln, als wollte sie sagen, ich bin vielleicht einundachtzig, aber ich bringe dich immer noch auf die Palme. Und das schaffte sie auch.
»Schön. Das ist genau seine Aufgabe. Sie und Ihr Mr. Wolfe schaffen das schon. Ich weiß nicht, warum Sie mich überhaupt angerufen haben.«
Plötzlich war mir alles zu viel. Ich stand abrupt auf und ging zur Tür. Ich hatte genug von ihren ständigen Forderungen und kleinlichen Vorurteilen und kindischen Geheimnissen. Ich hielt den Gestank im Haus keine Minute länger aus, und ich hatte auch keine Lust, hier in der Kälte zu hocken und ihren dünnen Teichwassertee zu trinken, während mein eigener Tee in meiner eigenen Küche kalt wurde. Soll sie doch machen, was sie will, dachte ich. Ich wollte zurück in mein Bett.
Zu Hause wärmte ich den Tee in der Mikrowelle auf und kroch angezogen ins Bett. Vor dem Fenster zog schwächlich die Dämmerung auf, und der Himmel sah aus, als hätte er blaue Flecken abbekommen; lange rote Streifen verschmierten die Oberfläche der Wolken wie blutige Kratzer. Ich zog mir die schwarze Unterhose über den Kopf und versuchte wieder einzuschlafen, doch ich war zu überdreht, um mich zu entspannen, und zu müde, um aufzustehen. Der Alptraum, der mich aufgeweckt hatte, drängte immer noch gegen die Wände meines Bewusstseins - die böswillige Gestalt mit dem leeren, augenlosen Gesicht. Ich schauderte. Aus irgendeinem Grund dachte ich an die Webseite, die sich Ben angesehen hatte - der Antichrist, der Verführer, der unerkannt über die Erde schlich und das Böse und Angst verbreitete. Jetzt kam mir das gar nicht mehr komisch vor. Das Telefon klingelte.
»Seien Sie nicht ärgerlich, Georgine. Ich habe bloß Spaß gemacht. Ich bin doch nur eine alte Frau. Bitte rufen Sie Mr. Ali für mich an. Ich habe die Nummer verloren.«
»Okay, okay.«
Sie rief mich ein paar Stunden später zurück, um mir zu sagen, dass Mr. Ali da gewesen war, ein Brett vor die Tür genagelt und das Schloss ausgetauscht hatte. Auch an der Vordertür hatte er zusätzlich ein neues Einsteckschloss angebracht,
und er hatte an beide Türen einen Riegel montiert. »Sie sind so sicher wie in Gefängnis«, hatte er gesagt. »Wie viel hat er berechnet?«, fragte ich.
»Ich habe ihm zehn Pfund gegeben. Und er wollte den vollen Preis für die Schlösser und Riegel.« Sie sagte es mürrisch, als fühlte sie sich über den Tisch gezogen.
»Sie sollten ihm dankbar sein«, entgegnete ich, doch offensichtlich sah sie es anders.
»Sie sind immer noch ärgerlich, Georgine, nich wahr? Seien Sie nicht ärgerlich. Sie sind die einzige Freundin, die ich habe.« »Nein. Ich bin nicht ärgerlich, Mrs. Shapiro.«
Es stimmte, ich war nicht mehr ärgerlich. Ich hatte andere Dinge im Kopf.
Rip war gerade von einer Geschäftsreise zurückgekommen und hatte mittags angerufen, um zu sagen, dass er Ben morgen nach der Arbeit abholen würde. Selbst nach all der Zeit wühlten mich seine Anrufe immer noch auf. Ich musste mich mental darauf vorbereiten, ihm an der Tür entgegenzutreten. Von oben hörte ich das Poltern von Schritten, gefolgt vom Poltern von Musik - Bens morgendliches Auf Stehritual, auch wenn es längst nach Mittag war. Der Junge hätte den dritten Weltkrieg verschlafen. Mal abgesehen davon wusste ich immer noch nicht, was Weihnachten in Holtham passiert war.
Am Montagnachmittag klingelte es etwas früher, als ich erwartet hatte. Ich setzte mein Zu-allem-bereit-Lächeln auf und ging an die Tür. Doch draußen stand nicht Rip, es war Mark Diabello. Sein schwarzer Jaguar parkte vor dem Gartentor, und auch er hatte ein Zu-allem-bereit-Lächeln im Gesicht.
»Hallo, Mrs. Sinclair. Georgina.« Die Grübchen
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