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Das Leben kleben

Das Leben kleben

Titel: Das Leben kleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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dass du solche Gedanken hast, Ben? Oder Rip?«
    »Ich dachte, ihr denkt, ich spinne? Und ihr hättet auch gar nicht zugehört? Du und Dad - ihr hört doch nie zu.« Jetzt war seine Stimme nur noch ein Murmeln. »Ihr seid so überzeugt, dass ihr schon alles wisst.«
    Er meinte es nicht als Vorwurf, aber es brannte wie einer. Wir waren so mit unserem eigenen Leben und unseren eigenen Problemen beschäftigt, dass wir den Hilferuf unseres Sohnes nicht gehört hatten.
    »Es tut mir leid, Ben. Du hast recht - wir hören nicht immer zu. Wollen wir jetzt darüber reden?«
    »Nein, schon gut, Mum.« Er grinste unbeholfen und trank den Rest des Wassers aus. »Jetzt geht's schon wieder. Ich glaube, ich mach mir ein paar Schokopops.« Nachdem er hinaufgegangen war, saß ich mit einem Glas Wein in der Küche und fragte mich, wann wir die falsche Abzweigung genommen hatten. Wir hatten ihn dazu erzogen, Unterschiede zu respektieren - Vielfalt zu respektieren. Keinen Respekt vor jemandes Glauben zu haben, war nicht richtig. In seiner Grundschule in Leeds hatten Rip und ich es, wie alle guten Mittelklasseeltern, begeistert begrüßt, dass sie Weihnachten und Eid und Diwali feierten. Jeder Glaube war gleichberechtigt. Christentum, Islam, Hinduismus, Judentum, Astrologie, Astronomie, Relativität, Evolution, Kreationismus, Sozialismus, Monetarismus, Erderwärmung, die Ozonschicht, Kristallheilung, Darwin, Hawking, Dawkins, Nostradamus, Elisabeth Teissier, sie alle waren da draußen und wetteiferten auf dem Marktplatz der Ideen. Wie sollte irgendjemand wissen, was die Wahrheit war und was nicht?
     

24 - Die Anziehung von Bindemitteln und Fügeteilen
    Irgendwann in der Nacht fing es zu schneien an. Als ich morgens die Vorhänge zurückzog, war alles weiß, und ein Glücksgefühl überkam mich wie als Kind, wenn ich aufwachte und es geschneit hatte. Keine Schule, Schneeballschlachten mit meinem Bruder, Rodeln auf Tabletts die Abraumhalde hinunter. Damals, vor der Erfindung von Allradantrieb und Onlinejobs, bedeutete Schnee schulfrei, Anarchie - ein Freudentag.
    Im Garten wirkte selbst der hässliche gelbgefleckte Lorbeerbusch wie verzaubert, seine Blätter und Zweige bogen sich anmutig unter ihren Schneehauben. Ich sah eine Bewegung, als würden drei kleine schwarze Tierchen durch den Schnee hüpfen, dann erkannte ich, dass es drei schwarze Pfoten an einem weißen Körper waren. Wonder Boy streifte am Mäuerchen entlang, wanderte auf Zehenspitzen über die Wiese und nahm seinen Posten unter dem Lorbeerbusch ein, um das Haus zu beobachten. Er erinnerte mich daran, dass ich Mrs. Shapiro besuchen sollte.
    »Sieh mal, Ben«, sagte ich, als er zum Frühstück kam. »Es schneit. Du kannst zu Hause bleiben.«
    »Schon gut, Mum. Heute geht's mir schon besser. Ich muss an meinem Technologieprojekt arbeiten. Der Bus fährt sicher trotzdem.« Wie kam es nur, dass er so vernünftig war? Ich umarmte ihn. »Pass auf dich auf.«
    Nachdem er weg war, setzte ich mich an den Schreibtisch und versuchte mich auf den Artikel für
Klebstoffe
zu konzentrieren. »Die Anziehung der Oberflächen im Klebeprozess.«
    »Die hohen Zugkräfte, die zwischen Bindemittel und Fügeteil herrschen, können adsorptiv, elektrostatisch oder diffusiv sein.«
Es war etwas Romantisches, dachte ich, an diesen hartnäckigen, die Zeit überdauernden Kräften - Bindungen, so stark, dass sie sogar die Materialien überlebten, die sie verbanden.
    Mmh. Meine Gedanken begannen zu wandern. Es nutzte nichts. Die
Klebstoffe
mussten warten - ich wollte raus, bevor der Schnee schmolz.
    Ich rief Mrs. Shapiro an, um zu fragen, ob sie etwas brauchte. Sie ging nicht ans Telefon, und so zog ich Gummistiefel und Mantel über und stapfte einfach los. Die Sonne strahlte tief am Himmel und bestäubte jede Oberfläche mit einem goldenen Funkeln, aber der Schnee taute bereits, und überall entstanden Minilawinen, als er von Dächern und Bäumen rutschte. Wonder Boy folgte mir die Straße hinunter. Ich warf einen Schneeball nach ihm, doch er wich geschickt aus.
    Als ich vor Canaan House stand, sah ich, dass der Schnee das Ende der Regenrinne heruntergedrückt hatte und das Schmelzwasser auf die Veranda tropfte. Vielleicht musste ich wieder Mr. Ali holen. Im Schnee war eine Fußspur, die vom Haus wegführte. Ich klopfte vorsichtshalber, doch ich war nicht überrascht, als niemand aufmachte. Sie musste schon aus dem Haus gegangen sein. Wonder Boy schlenderte den Gartenweg hinauf, setzte sich auf die

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