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Das Leben kleben

Das Leben kleben

Titel: Das Leben kleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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über den ganzen Globus verteilt war wie Wolken von menschlichem Staub, endlich zur Ruhe kommen. Wenn Du doch nur auch hier wärst, bei uns, Artem. Du kannst Dir nicht vorstellen, mein Liebster, wie glücklich es uns macht, nicht für Profit oder Lohn zu arbeiten, sondern für den Aufbau einer Gemeinde des gelebten Glaubens. Hier wollen wir alt werden und sterben, aber wir bauen auch eine Zukunft für unsere Kinder. Hier werden sie frei und ohne Furcht aufwachsen, in diesem Land, das wir für sie aufbauen - ein Land ohne Stacheldraht, aus dem uns nie wieder ein Mensch vertreiben kann. Endlich sind wir aus unserer vorläufigen Unterkunft in Lydda in den neuen Moschaw hier in Kefar Daniyyel gezogen, er liegt an einem nach Westen ausgerichteten Hang über der Stadt. Ein paar Hektar ödes Land und ein kleines Wasserrinnsal, ein leerer, verlassener Ort, doch er wird unser Garten sein. Im Osten geht die Sonne über den Bergen von Judäa auf, und im Westen geht sie unter hinter der Küstenebene mit ihren Weizenfeldern und Zitronenhainen. Nachts sehen wir die Lichter im Tal flackern wie Hawdala-Kerzen. Morgens, bevor es in der Sonne zu heiß wird, arbeiten wir draußen, tragen Steine vom Hang ab und arbeiten an den Terrassen für die Herbstaussaat. Ytzak hat Samen eines neuen Fruchtbaums namens Avo-Kado organisiert, den er hier kultivieren will, sobald wir das Problem mit der Bewässerung gelöst haben. Die Männer verlegen Wasserrohre, die Leben in das öde Land bringen werden, das früher nur ein paar Dutzend Menschen und ihr kümmerliches Vieh genährt hat. Mein Liebster, ich habe eine große Neuigkeit, und ich hoffe, dass sie Dich dazu bringen wird, herzukommen, selbst wenn Du bisher nicht kommen wolltest: denn unsere Liebe trägt eine Frucht. Arti, Du wirst Vater. Ich trage ein Kind unter dem Herzen. An vielen Abenden, wenn es abkühlt, gehe ich hinauf auf den Gipfel bei Tel Hadid und sehe dem Sonnenuntergang über dem Meer zu, und dann denke ich an Dich, dort jenseits des Meeres, und an Dein Kind, das hier in mir wächst. Mein liebster Schatz, bitte komm und bleib bei uns, wenn Du irgend kannst. Und wenn Du noch nicht kommen kannst, schreib mir hier nach Kefar Daniyyel, ich werde es verstehen.
    Mit innigen Küssen, Naomi
     
    Am Ende der Seite war ein Fleck, der vielleicht ein Kuss gewesen war oder eine Träne.
    Der Brief war in kleiner sauberer Schrift auf die beiden Seiten zweier dünner Blätter geschrieben. War er hier versteckt oder verlegt worden? Ich las ihn noch einmal. Diesen Stil hatte sie inzwischen völlig abgelegt, dachte ich. Dann faltete ich den Brief wieder zusammen und steckte ihn ein. Ich konnte mir das arme traurige Mädchen mit dem Baby unter dem Herzen auf dem Berg vorstellen, wie sie dem Sonnenuntergang über dem Meer zusah und sich nach ihrem Liebsten sehnte. Aber die Geschichte fügte sich trotzdem noch nicht zusammen. War er am Ende zu ihr gekommen? Oder war es Naomi, die zurückgekommen war? War er mit einer anderen verheiratet gewesen? Und was war aus dem Baby geworden?
    Neugierig blätterte ich die Notenhefte durch, um zu sehen, ob noch weitere Briefe herausfallen würden. Das Delius-Liederbuch klappte auf einer Seite auf, in die jemand die englische Übersetzung einer deutschen Zeile gelegt hatte.
    Hab' jüngst gesehen zwei Augen braun, Drin war mein Heil, mein' Welt zu schau 'n
Es hatte eine Zeit gegeben, als Rip mich sein braunäugiges Mädchen nannte, und ich erinnerte mich, wie wir
Brown-Eyed Girl von
Van Morrison mitsangen, auf der Fahrt mit dem Auto nach Frankreich, Stella und Ben auf dem Rücksitz festgeschnallt und das sperrige Zelt und die Campingausrüstung auf dem Dach. Ich drückte seine Hand, und die Kinder verdrehten die Augen und schnaubten kichernd beim Anblick dieser Gefühlsduselei der Erwachsenen. Was geschieht mit der Liebe? Wo geht sie hin, wenn sie nicht mehr da ist? Rips Liebe war langsam, aber sicher in seinem Zukunftsprojekt versickert. Und wahrscheinlich hatte auch ich Schuld, weil ich es zuließ - weil ich zuließ, dass meine Augen weniger braun wurden.
    Das Licht der Taschenlampe flackerte; wahrscheinlich waren die Batterien bald zu Ende. Ich stellte sie aus und ging nach oben. Alle neun Türen waren zu. In Mrs. Shapiros Schlafzimmer packte ich ihr grauweißes Satinnachthemd ein, den rosa Chenillebademantel und die
König-der-Löwen-Hausschuhe.
Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und sah, dass die Harlech-Castle-Blechdose noch auf dem Schrank lag, wo ich sie

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