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Das Leben kleben

Das Leben kleben

Titel: Das Leben kleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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nicht verantworten müssen, wenn sie wieder einen Unfall hat ...«
     
    Ben war noch auf, als ich nach Hause kam.
    »Jemand hat für dich angerufen«, sagte er.
    »Hat er eine Nachricht hinterlassen?«
    »Er hat gesagt, du sollst zurückrufen. Mr. Diabello.«
    »Ach, ja, der Immobilienmakler.« Ich achtete darauf, dass ich absolut gleichgültig klang. »Ich will, dass er mir ein Gutachten für Mrs. Shapiros Haus macht.«
    »Seltsamer Name.«
    »Ja, habe ich auch gedacht. Es ist schon spät. Ich ruf ihn morgen an.« Sollte ich oder sollte ich nicht? Mit einem Schaudern dachte ich an das schamlose Verhalten der hemmungslosen Frau in der scharlachroten Reizwäsche, die sich lasziv in den Velcrofesseln wand - war das wirklich ich?
     

25 - Ein zahnloses Lächeln
    Nachdem Ben am Samstag mit Rip davongefahren war, zog ich meine alten Jeans an, packte für alle Fälle eine Taschenlampe und einen Schraubenzieher ein und ging zu Canaan House. Dies war meine Chance, mich ausgiebig umzusehen. Ich war fest entschlossen, Mrs. Shapiros wahres Alter und die Identität der geheimnisvollen Frau auf dem Foto festzustellen. Es gab zwei Orte, an denen ich noch nicht nachgesehen hatte - das Wohnzimmer mit dem mit Brettern vernagelten Erkerfenster und der kaputten Glühbirne und den Dachboden. Ich fütterte die Katzen und machte den Haufen im Flur weg. Dann begann ich systematisch zu suchen.
    An der Tür zum Wohnzimmer war die Klinke kaputt, so dass sie einen Spalt offen stand. Ich schob sie auf. Der Gestank - nach Tier, nach Katze, nach Widerlich - war so überwältigend, dass ich beinahe zurückprallte, doch dann drückte ich mir das Taschentuch gegen die Nase, trat ein und leuchtete mit der Taschenlampe herum. Das Licht fiel auf eine hohe, mit Stuck verzierte Decke, einen kaputten Kronleuchter und einen riesigen marmornen Kamin mit einem riesigen Rußfleck davor und einer verzierten goldenen Uhr auf dem Kaminsims, deren Zeiger kurz vor zwölf stehen geblieben waren. Außerdem gab es zwei Sofas und vier Sessel, alle mit weißen Laken abgedeckt, eine Mahagoni-Anrichte mit Schnitzereien, auf der Gläser und verschiedene Karaffen standen - in einer waren noch ein paar Zentimeter einer dicklichen braunen Flüssigkeit, die nach Terpentin roch -, und vor dem Fenster einen Flügel, der auch mit einem Laken abgedeckt war. Ich ließ den Lichtstrahl über die Gemälde an den Wänden gleiten - düstere viktorianische Ölschinken von Gebirgslandschaften, Stürmen auf See, sterbenden Tieren, ganz anders als das trauliche Durcheinander persönlicher Bilder und Fotos in den anderen Zimmern.
    Vor dem Erkerfenster hingen schwere Brokatvorhänge mit Fransen; eine hässliche kastenartige Blende, mit dem gleichen Brokat bezogen, war halb von der Wand gerutscht, und als ich näher hinsah, sah ich auch, warum. Von der Decke über den Fenstersturz bis zum Boden durchzog ein riesiger Riss die Wand, durch den ein kalter Zug hereinpfiff. An der Stelle, wo der Riss im Boden verschwand, war er mehrere Zentimeter breit. Wahrscheinlich waren die Wurzeln der Araukarie für den Schaden verantwortlich, dachte ich. Kein Wunder, dass sie sie fällen lassen wollte.
    Ich setzte mich an den Flügel, hob das Laken an, klappte den Deckel der Klaviatur auf - es war ein Bechstein - und schlug ein paar Tasten an. Die melancholischen, ungestimmten Klänge hallten in der Stille. Im Klavierhocker waren Noten - Beethoven, Chopin, Delius, Grieg. Nicht die Sachen, die man in Kippax hörte. Vorn in den Grieg-Noten stand in gestochener Handschrift ein Name, mit altmodischen Schnörkeln um die Großbuchstaben: Hannah Wechsler. In den Liedern von Delius stand ein anderer Name: Ella Wechsler. Ich dachte an das Foto der Familie Wechsler um den Flügel. Wer waren sie? Als ich durch die Noten blätterte, flatterte etwas zu Boden. Ich hob es auf und leuchtete mit der Taschenlampe darauf. Es war ein Brief.
     
    Kefar Daniyyel bei Lydda, 18. Juni 1950
    Mein liebster Artem,
    warum antwortest Du nicht auf meine Briefe? Ich denke jeden Tag an Dich, und nachts träume ich von Dir. Die ganze Zeit frage ich mich, ob es richtig war, hierherzukommen und Dich in London zurückzulassen. Aber ich kann meine Entscheidung nicht rückgängig machen. Denn dies ist unser Hort der Sicherheit, mein Liebster, der Ort, wohin unser Volk aus allen Ländern, in denen wir im Exil waren, kommt, um endlich in Frieden zu leben. Hier, in unserem Gelobten Land, wird unsere verstreute Nation, die über so viele Jahrhunderte

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