Das Leben kleben
küsste mich bedächtig auf Hals und Nacken.
»Du bist eine sehr schöne Frau, Georgina. Hat dir das schon einmal jemand gesagt?«
Ich wollte ihm glauben. Beinahe glaubte ich ihm; doch ein kühles Flüstern in meinem Kopf erinnerte mich daran, dass er wahrscheinlich mit einem Dutzend Frauen schlief und zu jeder das Gleiche sagte. Dann meldete sich etwas aus einer anderen Zeit in mir, Rips Stimme, heiser an meiner Wange: »Wenn jemals Schönheit ich erblickt, die ich begehrte und besaß: es war ein Traum von dir.« Wie lange war das her?
»Du gehst jetzt besser. Es ist fast vier.«
»Was passiert um vier? Verwandelst du dich in einen Kürbis?« »Nein, ich verwandele mich in eine Mutter.«
Kurz nach vier drehte sich der Schlüssel im Schloss und ich verwandelte mich in eine Mutter. »Hallo, Mum.«
Ben ließ die Tasche fallen und ließ sich umarmen, wobei er das Gesicht wegdrehte. Er sah angespannt und blass aus. »Alles in Ordnung?« »Ja, alles cool.«
Er sah mir nicht in die Augen. Sein Blick war aufs Fenster gerichtet. »Möchtest du ein Sandwich? Schokopops?« »Nee. Nur ein Glas Wasser.«
Er trank mit beiden Ellbogen auf dem Tisch, und die braunen Locken fielen ihm in die Augen. »In letzter Zeit fühle ich mich ... so komisch.« Ich warf Mr. Diabello aus meinem Bewusstsein und setzte mich zu ihm. »Wie meinst du das, komisch?«
»Ich habe irgendwie so komische Gefühle. So Ahnungen.« Ich spürte, wie mein Herz schneller schlug, doch ich ließ meiner Stimme nichts anmerken. »Was für Ahnungen, Ben?« »Als wären wir ... an der Schwelle von etwas.« »An der Schwelle?«
Ich hatte keine Ahnung, wovon er redete. Ich wartete, hörte zu.
»Irgendwie ... als hätte die Endzeit angefangen, Mum. Man sieht es am Licht -schau doch hin - als ob es aus einer anderen Welt zu uns rüberscheint.«
Er zeigte zum Fenster. Ich drehte mich um. Zwischen den Häusern strahlte eine niedrige rosa Lichtsäule die violetten Kumuluswolken von unten an. Die Backsteinhäuser und kahlen Bäume wurden von hinten beleuchtet, schwarze Schatten vor strahlendem Licht. Ich konnte nachvollziehen, was er meinte - es sah überirdisch aus.
»Es ist Winter, Ben. Um diese Zeit des Jahres steht die Sonne immer tief. Noch weiter nördlich, in Skandinavien, haben sie überhaupt kein Tageslicht.«
Er sah auf, und ein Lächeln huschte über seine Lippen. »Du nimmst immer alles so wörtlich, Mum.«
Die Wolken verschoben sich und die Lichtsäule verschwand, doch es lag noch ein feuriger Glanz auf dem Unterleib des Himmels.
»Ich habe die ganze Zeit so komische Gefühle, wie wenn das Ende der Welt kurz bevorsteht.« Er hielt inne, trank einen Schluck Wasser. »Als wären wir am Ende aller Zeiten angekommen?«
»Ben, warum hast du denn nie ...«
»Also habe ich
Endzeit
gegoogelt. Und da habe ich gemerkt, dass es nicht nur mir so geht?«
So machen sie das in seiner Generation, dachte ich. Sie reden nicht mit ihren Eltern oder Freunden wie wir früher - sie schauen im Internet nach.
»Da sind diese ganzen Zeichen - Vorhersagen in der Bibel über das Ende der Zeit? Kriege, Erdbeben, Überschwemmungen, Plagen und so - und alles erfüllt sich jetzt?« Seine Stimme klang angestrengt und brüchig.
»Aber du glaubst doch nicht an dieses Zeug über Prophezeiungen, oder, Ben?«
»Nein, aber ... doch ... ich denke, wenn so viele Leute es glauben, könnte doch was dran sein, oder?«
»Aber diese Dinge - Kriege, Erdbeben, Überschwemmungen, Plagen - die hat es schon immer gegeben, in der ganzen Menschheitsgeschichte.«
»Ja, ich weiß, aber jetzt geht alles viel schneller. Überschwemmungen und Erdbeben - jedes Jahr passiert irgendwas. Aids, SARS, die Vogelgrippe - diese ganzen neuen Krankheiten. Es erfüllt sich irgendwie alles. Also, in der Bibel, da wird vorausgesagt, dass die Juden nach Israel zurückkehren, und das haben sie gemacht. Du weißt schon, 1948. Nach dem Holocaust und so? Das war der Anfang von den ganzen Kriegen im Nahen Osten. Der Einmarsch im Libanon. Du kannst es nachlesen, Mum - es steht alles in der Bibel. Und es sind nicht nur die Juden und die Christen? Auch viele Moslems glauben, dass der große Prophet kommt? Der, den sie den letzten Imam nennen?« Mit den gesteigerten Hebungen schien er meinen Einspruch herausfordern zu wollen.
Wie konnte ich ihm erklären, ohne selbstgefällig zu klingen, dass etwas, nur weil Millionen von Menschen daran glaubten, noch lange nicht wahr sein musste?
»Warum hast du mir nicht erzählt,
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