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Das Leben kleben

Das Leben kleben

Titel: Das Leben kleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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eine weitere Glasschiebetür auf der anderen Seite, wahrscheinlich ebenfalls ferngesteuert. Durch die Scheibe sah ich einen Korridor, von dem Türen abgingen. Dort, in einer dieser Betonzellen, saß Mrs. Shapiro in ihrem Bett und wartete darauf, dass ich sie befreite. Irgendwie musste ich ihr eine Nachricht zukommen lassen, damit sie wusste, dass ich es versuchte. Wahrscheinlich hatte sie immer noch den Verband, dachte ich und hoffte, dass sie in irgendeiner Form medizinisch versorgt wurde.
    Ich setzte mich auf einen rosa Stuhl und wartete eine Weile, während ich darüber nachdachte, was ich tun sollte. Es war unheimlich still, alle Geräusche wurden von einem dicken rosa Teppich und der geschlossenen Schiebetür verschluckt; die Luft war tot, mit einem synthetischen Geruch, der süßlich und chemisch war. Ab und zu entließ ein Fahrstuhl Leute in den Eingangsbereich, und der Wachhund drückte den Knopf, um sie aus dem Gebäude zu lassen. Manche trugen Schwesternkittel, andere die gleiche Uniform wie der Wachhund, bestehend aus Rock und Jackett, und eine Frau hatte ein Stethoskop um den Hals und sah aus wie eine Ärztin. Alle wirkten, als hätten sie alle Hände voll zu tun. Ich sah ein, dass das leidenschaftliche Plädoyer gegen die Verletzung von Menschenrechten, an dem ich im Stillen feilte, hier keinen Eindruck machen würde.
    Auf einem Tischchen neben den rosa Stühlen stand eine Schale mit polierten wachsigen Früchten, die zweifellos den Familien suggerieren sollte, dass ihre eingesperrten Verwandten gesund ernährt wurden. Ich nahm einen grellgrünen Apfel - die Farbe von Mrs. Goodneys Jacke - und biss kräftig hinein. Mein Kauen hallte durch den Empfangsraum. Der Wachhund funkelte mich böse an. Als ich fertig war, legte ich den Apfelbutzen auf den Empfangstisch und ging.
    Auf dem Weg zur Bushaltestelle überlegte ich fieberhaft, wie ich Mrs. Shapiro da rausbekommen konnte. Ich stellte mir ein Videospiel-Szenario vor, wie wir beide durch kahle Gänge rannten und Sicherheitsbeamten und mit Ampullen bewaffneten Schwestern auswichen, die Geigen im Hintergrund spielten ein wildes Crescendo, als wir durch die Glastür brachen, die Lea Bridge Road hinunterliefen und auf einen vorbeifahrenden Bus aufsprangen.
    Es hat etwas Magisches, oben in einem Doppeldeckerbus auf der vordersten Bank zu sitzen und zwischen den Baumwipfeln dahinzurauschen. Ich spürte, wie die Spannung in Schultern und Nacken von mir abfiel, während ich hoch über der Straße hin und her gewiegt wurde, als ritte ich auf einem Elefanten. Als wir über die Brücke fuhren, erhaschte ich einen Blick auf die schmalen, glasigen Kurven des Flusses Lea, der nach London hineinströmte. Um mich herum jagten die Wolken über den Himmel und leuchteten rosa auf, wenn die Sonne auf sie schien - es war nicht das tote chemische Rosa von Northmere House, sondern ein helles, flüchtiges Aufglänzen wie ein unerwartetes Lächeln. Ich dachte an die junge Frau, die schwanger auf dem Berg saß und zusah, wie der Sonnenuntergang den westlichen Himmel über dem Meer rot färbte, und auf ihren Liebsten wartete. Jetzt war sie hier in dieser Betonfestung eingesperrt und wartete darauf, dass ich sie rausholte.
    Der Bus ruckelte und bog ab, als wir die Baumwipfel am Millfield Park hinter uns ließen, und einen Augenblick öffnete sich vor mir der ganze Himmel, stürmisch, lebhaft, mit apokalyptischen Lichtsäulen, die durch die Wolken brachen. Irgendwo regnete es. Ein bunter Regenbogen glomm auf und verschwand. Aus irgendeinem Grund kamen mir die Tränen. Ich erinnerte mich an die seltsame Unterhaltung mit Ben. An der Schwelle von etwas. Die Endzeit. Der Beginn einer neuen Welt. Armer Ben - warum nahm er sich alles so zu Herzen?
    Montags vermisste ich ihn am meisten - noch zwei Tage, bis er wiederkam. Niemand warnt einen, wie weh einem die Kinder einmal tun werden; niemand warnt einen vor diesem reißenden Schmerz der Liebe, der einem zwischen die Rippen fährt und darin herumstochert, wenn man gerade versucht, sein Leben in den Griff zu bekommen. Es war vier Uhr - die Schule war zu Ende. War Ben schon bei Rip, aß Schokopops und erzählte von seinem Tag? An der nächsten Haltestelle stieg eine Schar Schüler ein und kam herauf aufs Oberdeck; sie schrien und lachten und bewarfen einander mit irgendwelchem Zeug. Zerbrachen sie sich auch den Kopf wegen Armageddon und der bevorstehenden Zeitenwende? Bei Kindern konnte man nie wissen.
    Zu Hause setzte ich als Erstes den Kessel

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