Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Leben kleben

Das Leben kleben

Titel: Das Leben kleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
Vom Netzwerk:
Räume aufnahm, murmelte er bewundernd vor sich hin. »Hm. Hm.« Als wir auf den Dachboden kamen, holte er Luft. »Hier können wir schönes Benthouse machen.«
    »Konzentrieren wir uns erst mal auf das Wichtigste«, sagte ich.
    In der Halle blieb er wieder vor dem Foto der Kirche in Lydda stehen, die Arme vor der Brust verschränkt. Ich versuchte seinen Gesichtsausdruck zu deuten, aber er stand mit dem Profil zu mir, und ich sah nur den Schatten einer Furche auf seiner Stirn.
    »Wissen Sie, genau neben Tür zur Kirche war Moschee. Kreuz und Halbmond Seite an Seite in Frieden.« »Erzählen Sie mir von Lydda«, sagte ich. »Ist Ihre Familie noch dort?« »Wissen Sie nicht von Nakba?« »Nakba? Was ist das?«
    »Hm. Sie wissen gar nichts.« Er sagte es mit einem Seufzer, dem gleichen, mit dem er mir die Nichtsnutze vorgestellt hatte. »In meinem Land sagen wir, dass Unwissenheit ist warmes Bad, in dem ist angenehm zu sitzen, aber ist gefährlich sich hinzulegen.«
    »Tut mir leid. Ich mache Ihnen einen Tee, wenn Sie mir mehr erzählen.«
    Ich stellte den Kessel auf, spülte, so gut es ging, zwei der weniger verkrusteten Tassen und hängte in jede einen Kräuterteebeutel. Wir setzten uns an den Küchentisch. Glücklicherweise hatte ich die Reste von Mrs. Shapiros letztem unbeendetem Mahl weggeräumt. Er trank sein Teichwasser mit drei gehäuften Teelöffeln Zucker, und ich tat es ihm nach - offensichtlich war das das Geheimnis. Wir rührten um und tranken.
    »Sie wollten mir von Ihrer Familie erzählen«, sagte ich. »Ich werde Ihnen erzählen, wie sie aus Lydda weggegangen sind. Aber Sie kennen Geschichte - britisches Mandat für Palästina?« »Naja, nur ein bisschen. Ehrlich gesagt, nicht sehr viel.« Er seufzte wieder. »Aber Sie wissen von jüdischer Holocaust?« »Ja, das weiß ich.«
    »Natürlich, alle wissen von Leid der Juden.« Er schniefte gereizt. »Nur von Leid des palästinensischen Volk weiß keiner.«
    »Aber ich will davon wissen, Mr. Ali. Erzählen Sie mir davon.«
    Diese Geschichte - inzwischen war mir klar, dass sie sehr viel komplizierter werden würde als ein Liebesroman ä la Ms. Firestorm. Aber sie ließ mich nicht los.
    Mr. Ali blies in seinen Tee und trank einen Schluck, dann saugte er die süße Flüssigkeit von seinen Schnurrbartspitzen.
    »Sie wissen, nach Krieg, nach dem, was sie Juden angetan hatten, hat ganze Welt nach jüdischem Heimatland gesucht. Und clever Engländer sagen - schaut, wir geben ihnen dieses Land in Palästina. Land ohne Leute, Leute ohne Land. Typisch England, verschenken etwas, das ihnen nicht gehört.« Er sah nach, ob ich noch zuhörte. Ich nickte ermutigend. »Land war nicht leer, Mrs. George. Palästinensisches Volk wohnt da, bewirtschaftet Land, seit Generationen. Jetzt heißt plötzlich müssen Hälfte an Juden geben. Haben Sie nicht in Schule gelernt?«
    »Nein.« Meine Ignoranz war mir peinlich. In Geographie hatte ich wenigstens eine Entschuldigung. Aber Geschichte hatte ich bis zum Ende gehabt. »In Geschichte haben wir mehr über die Könige und Königinnen von England gelernt. Heinrich der Achte und seine sechs Frauen.«
    »Sechs Frauen? Zu gleiche Zeit?«
    »Nein. Zwei hat er umgebracht, von zweien hat er sich scheiden lassen, eine ist gestorben.«
    »Typisch englische Verhalten. So war auch bei uns. Manche umgebracht. Manche weggeschickt, in Exil. Manche gestorben.« Mr. Ali schüttelte ärgerlich den Kopf und trank einen Schluck Tee, wobei er sich den Mund verbrannte und Luft einsaugte, um die Stelle abzukühlen. »Aber das war vor langer Zeit.«
    »Nein. 1948. Was Römer mit Juden gemacht, haben dann Juden mit Palästinenser gemacht. Rausgejagt. Wir nennen Nakba. Bedeutet Katastrophe in Ihre Sprache.« »Nein, ich meinte, Heinrich der Achte war vor langer Zeit.« »Vor Römer?«
    »Nein, nach den Römern, aber vor ... egal.« Ich sah seinen verwirrten Blick. »Aber das ist alles nur Geschichte, oder?« Das schien ihn noch ärgerlicher zu machen.
    »Sie haben nichts in Schule gelernt. Außer von Mann mit sechs Frauen. Geschichte hat kein Grenzen, Mrs. George. Vergangenheit reicht in Gegenwart reicht in Zukunft.« Er machte aufgeregte Kreisbewegungen mit der Hand. »Junge Israelis sind auch unwissend. Bekommen in Schule gesagt, dass Juden in leeres Land kamen, aber nicht, wie Land leer gemacht wurde.«
    Ich dachte an den Brief aus dem Klavierhocker. Ja, das war genau das, was sie geschrieben hatte - ein ödes und leeres Land. »Es war also wie ... bei

Weitere Kostenlose Bücher