Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Leben kleben

Das Leben kleben

Titel: Das Leben kleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
Vom Netzwerk:
als er mir erklärte, worum es ging; ich dachte, mit der Zeit würde ich es schon begreifen, und eines Tages könnten wir dann über Synergie, Entwicklung, Globalisierung und so weiter plaudern. Der Zettel lag immer noch irgendwo in der Schreibtischschublade, zusammen mit den alten Gummibändern und ausgetrockneten Kulis.
    Einer plötzlichen Eingebung folgend griff ich zum Telefon und wählte seine Nummer. Eine junge Frau meldete sich - beinahe erkannte ich ihre Stimme nicht wieder.
    »Stella?«
    »Mum?«
    Der Schmerz der Sehnsucht traf mich unerwartet wie ein Schlag in den Magen.
    »Bist du nicht in der Uni?« (Warum besuchte sie Rip und nicht mich?)
    »Wir haben ... Examensvorbereitung. Ich bin nur hier wegen ...« Ihr Zögern verriet mir, dass es wahrscheinlich mit ihrem komplizierten Liebesleben zu tun hatte. »Willst du mit Dad sprechen?«
    Ihre Stimme - so süß - immer noch leicht piepsig wie die eines Kindes, aber mit dem Selbstvertrauen einer Erwachsenen. Sie war immer Papas Mädchen gewesen. Manchmal machte mich ihre Nähe eifersüchtig.
    »Ja - nein. Stella, kann ich mit
dir
sprechen? Ich habe das Gefühl, wir kommunizieren nur noch über Nachrichten auf dem Anrufbeantworter und SMS.«
    »Und?« Der reizbare Tonfall. Sie mochte es nicht, wenn ich ihr ein schlechtes Gewissen machte.
    »Hör mal, ich mache mir Sorgen um Ben. Ist dir in letzter Zeit irgendwas an ihm aufgefallen?«
    Mir fiel ein, dass sie seine neue Frisur noch nicht gesehen haben konnte, aber sie und Ben standen einander nahe - sie hatten sich ihre ganze Kindheit hindurch geliebt und gestritten, genau wie Keir und ich. »Er war immer schon ein bisschen schräg drauf, mein kleiner Bruder.« Sie war immer so selbstbewusst in ihren Urteilen. »Aber hast du nicht das Gefühl, dass er unglücklich ist?«
    »Ihm geht's gut, Mum. Er fährt halt voll auf Religion ab, das ist alles - so wie ich in seinem Alter auf Leonardo di Caprio.«
    »Genau das meine ich - Religion - das ist doch irgendwie komisch für einen Sechzehnjährigen.«
    »Ich weiß nicht, was du hast, Mum. Er könnte harte Drogen nehmen oder Autos klauen, und du regst dich auf, weil er die Bibel liest.«
    Vielleicht hat sie recht, dachte ich, vielleicht ist das alles nur eine Teenagerphase. Aber etwas an seinem Eifer, an dem intensiven Blick und seinen geweiteten Augen war mir unheimlich.
    »Er spricht vom Ende der Welt, als würde es jeden Moment bevorstehen.«
    »Ja, Dad regt sich darüber auch wahnsinnig auf. An Weihnachten gab es einen Riesenkrach. Dann hat sich auch noch Grandpa eingemischt.« »Ich habe mich schon gefragt, worum es da ging.« »Ben hat angefangen, Predigten zu halten.« »Was hat er denn gesagt?«
    »Irgendwas darüber, dass die Heiligkeit des Weihnachtsfests durch Alkohol und Konsum in den Schmutz gezogen wird. Alle haben gelacht. Ben war total sauer und hat versucht, sie zum Schweigen zu bringen.«
    »Der Arme.« Meine Stimme war ruhig, doch in mir fing es an zu brodeln.
    »Es war ziemlich übel. Grandpa hat ihn einen Waschlappen genannt.«
    »Und was hat Ben gesagt?«
    »Er sagte: Ich vergebe dir, Grandpa.« Sie kicherte. Ich kicherte auch. Ich versuchte mir das Gesicht meines Schwiegervaters vorzustellen. »Gut gemacht.«
    Ben hatte mir nichts davon erzählt, um meine Gefühle zu schonen.
    »Stella, es tut so gut, mit dir zu reden. Ist dein Praktikum an der Schule schon vorbei?«
    »Ja. Es war so schlimm, dass ich beinahe zur Massenmörderin geworden wäre. Ich weiß nicht, ob Lehrerin wirklich das Richtige für mich ist.« Ich hörte den jammernden Ton in ihrer Stimme, der mir so vertraut war. »Aber ich mache es trotzdem bis zum Ende fertig und entscheide dann. Mach dir keine Sorgen um Ben, Mum. Ihm geht's gut.«
    Als ich den Hörer auflegte, war ich von einer wunderbaren Erleichterung erfüllt, als wäre mir ein Sack Steine vom Herzen gefallen; ich wollte hinaus auf die Straße laufen und alle Menschen umarmen. Stattdessen lief ich in Bens Zimmer und umarmte ihn.
    »Alles klar, Mum?« Er riss den Blick vom Computer los. »Ich habe gerade mit Stella geredet.« »Was hat sie gesagt?«
    »Ach ... dass sie nicht genau weiß, ob sie Lehrerin werden will - ob es das Richtige für sie ist.«
    Er sah mich durchdringend an.
    »Du musst ein bisschen ruhiger werden, Mum. Du bist schon wieder so aufgedreht.«
     

31 - Weißes PVC
    Am Samstagmorgen fuhr Ben zu Rip, und ich erhielt einen Anruf von Mr. Ali.
    »Sie können kommen und sehen, Mrs. George. Haus ist alles

Weitere Kostenlose Bücher