Das Leben kommt immer dazwischen: Stationen einer Reise
existierte nur die kleine Welt, in der wir beide eng nebeneinander auf unseren schmalen Sitzen saßen.
»Sieht aus, als wären wir bald am Ziel«, sagte Marvin leise. Draußen war es hell geworden und die Sonne tauchte gerade hinter einer Wolkenschicht auf. Mein Kopf lag immer noch an seiner Schulter. Er sprach kaum hörbar, als sei er sich nicht sicher, ob ich schon wach war.
»Ja, sieht so aus«, flüsterte ich. Schon eine ganze Weile hatte ich aus dem Fenster gestarrt und mit einiger Traurigkeit daran gedacht, dass ich Marvin bald verlassen und nie wiedersehen würde. Mich hatte das Gefühl beschlichen, dass wir zusammengehörten – aber es sollte wohl einfach nicht sein. Es war die falsche Zeit. Als ob er meine Gedanken lesen könne, sagte Marvin plötzlich:
»Schlechtes Timing, nicht?«
»Allerdings«, antwortete ich. »Allerdings.«
Wir hatten vereinbart, keine Kontaktdaten auszutauschen, um in unserem Leben schmerzliche Komplikationen zu vermeiden. Ich war verheiratet, wenn auch unglücklich, und er hatte eine Freundin.
»Du weißt, dass ich dich nie vergessen werde«, sagte ich nach einer Pause mit belegter Stimme.
»Ich dich auch nicht«, erwiderte Marvin.
»Und dass ich so etwas normalerweise nicht tue«, fügte ich hinzu.
»Was denn?«
Ich richtete mich auf und schob ihn leicht von mir fort.
»Das hier natürlich«, sagte ich lachend und zeigte auf uns beide.
»Oh, das hätte ich nie gedacht. Es wirkte sehr gekonnt.«
Ich schubste ihn wieder und boxte spielerisch gegen seine Schulter.
»Ich meine es wirklich ernst. Es ist mir unerklärlich, was über mich gekommen ist.«
»Der Kerl hier!«, sagte er lachend, und zeigte auf sich. Und ich, die es gar nicht wollte, musste nun ebenfalls lachen.
»Du bist unmöglich!«
»Ladies and gentlemen, we are now approaching London Gatwick Airport. Please get back to your seats, fasten your seatbelts and bring your seats to the upright position …«
»Das war es dann wohl.« Marvin sah mich an.
Ich nahm seine Hand und hielt sie fest. Er erwiderte den Druck, wobei er seine Augen von mir abwendete. Und so blieben wir auf unseren Plätzen sitzen, den Blick in den Wolken verloren, bis zur Landung in Gatwick.
»Pass auf dich auf«, sagte Marvin nun schon zum dritten Mal.
»Du auch.«
Unsere Wege trennten sich, er musste den Flughafen verlassen und einen Bus von Gatwick nach Heathrow nehmen.
»Du musst jetzt wirklich gehen«, sagte ich, »sonst verpasst du noch den Anschlussflug.«
Marvin ließ meine Hand los und bewegte sich in Richtung Transitausgang. Er machte einen Schritt, dann drehte er sich plötzlich um. Genau in dem Moment, als ich ihn zurückrufen wollte. Fast gleichzeitig fingen wir wieder an zu reden. Wir konnten uns nicht einfach ohne eine Chance des Wiedersehens trennen. Und als er mir schließlich seine Visitenkarte gab, die er in seiner Jackentasche offensichtlich bereitgehalten hatte, öffnete ich meine Hand, in der meine eigene Karte lag. Wir wussten beide: Wir durften uns nicht miteinander in Verbindung setzen. Aber Marvin sah mich so eindringlich an, dass es mir fast den Atem raubte.
»Goodbye for now« , sagte er, hauchte mir einen Kuss zu – und ging nun wirklich zum Ausgang. Ich stand nur da, aufgewühlt und müde, und sah ihn hinter einer Tür verschwinden.
Ian hatte mich am Flughafen abgeholt. Im Auto fragte ich nach Akinyi und meiner Mutter, die während meiner Abwesenheit nach England gereist war, um auf unsere Tochter aufzupassen.
»Es geht ihr gut«, antwortete er.
»Könnte ich mal dein Handy haben? Ich will mit ihr reden. Und ich will meiner Mutter sagen, dass sie die Kleine nicht in den Kindergarten bringen soll.«
»Warum denn das nicht?«, fragte Ian scharf.
»Ich habe Akinyi zehn Tage nicht gesehen. Ich habe sie vermisst, und sie mich bestimmt auch. Ich will etwas Zeit mit ihr verbringen.«
»Das ist egoistisch. Sie geht gern in den Kindergarten, und du wirst sie früh genug zu Gesicht bekommen.«
Verdutzt schaute ich Ian an.
»Sie geht lieber in den Kindergarten als ihre Mutter wiederzusehen? Das glaube ich nicht!«
»Du bist wirklich egoistisch, Auma«, wiederholte mein Mann nur.
»Akinyi ist gerade zwei Jahre alt. Ich glaube nicht, dass es ihr schadet, wenn sie einen Tag nicht im Kindergarten ist, um stattdessen ihre Mutter zu sehen«, entgegnete ich gereizt.
Ian zuckte nur mit den Achseln und schaute auf die Straße. Im zäh fließenden Londoner Verkehr kamen wir nur langsam voran.
Weitere Kostenlose Bücher