Das Leben kommt immer dazwischen: Stationen einer Reise
höflichen Lächeln zuwandte. Ein schönes, starkes Gesicht, dachte ich. Seine Miene verriet, dass er auf Small Talk eingestellt war. Schließlich hatte ich meinen Platzwechsel ja damit begründet, dass ich Unterhaltung suchte.
»Sie fliegen nach England?«
Wäre ich nicht so nervös gewesen, hätte ich schnippisch: »Nein, nach China!« geantwortet. Aber alles, was ich zustande brachte, war, höflich zurückzufragen, wohin er denn reise.
Er erzählte mir, er sei auf dem Weg nach Hause, er lebe in Auckland, etwa eine halbe Stunde von San Francisco entfernt. Da unser Gespräch von Minute zu Minute intensiver wurde, konnte ich mir endlich in Ruhe sein Gesicht anschauen. Es gefiel mir. Sein kahl geschorener Kopf bildete einen interessanten Kontrast zu seinem sanft und zugleich männlich wirkenden Antlitz mit den schmalen Augen und dem vollen Mund, den ein Schnurrbart zierte. Die Sanftheit ging von Augen und Mund aus, von denen sich seine markante Stirn, die starken Wangenknochen und die große Nase abhoben. Und er verströmte eine innere Ruhe, die ihn noch anziehender machte.
Er war Geschäftsmann in den USA , wie ich nun erfuhr, und handelte mit kunsthandwerklichen Gegenständen aus dem südlichen Afrika. Ich selbst erzählte ihm begeistert von meiner Woche in Harare, von meiner Familie, von Ian und meiner Tochter. Ich redete fast pausenlos.
Im Verlauf des Gesprächs nahm ich mit gemischten Gefühlen zur Kenntnis, dass er schon zweimal verheiratet war und jetzt mit einer Freundin zusammenlebte. Kein Wunder, dachte ich. Er war gut gebaut, die hochgekrempelten Ärmel seines Jeanshemds ließen muskulöse Arme erkennen. Seine dunkle Haut war einige Stufen heller als meine und schimmerte leicht rötlich. Ich hatte geradezu unwiderstehliche Lust, mit meiner Hand über diese dunkle Haut mit dem feinen Haarflaum zu streichen – und erschrak selbst über den für mich so ungewohnten Gedanken.
Nach einer Weile begann sich mein Hals zu melden, weil ich mich die ganze Zeit mit Kopf und Schultern nach rechts gedreht hatte, um mich besser unterhalten zu können. Anfangs versuchte ich den Schmerz zu ignorieren, schließlich aber überwand ich mich, Marvin – wir hatten einander inzwischen vorgestellt – zu fragen, ob er etwas dagegen hätte, wenn ich einen Platz näher rückte, um bequemer mit ihm reden zu können. Es war mir etwas peinlich, dies auszusprechen, aber er sagte nur lächelnd und vollkommen ohne Ironie: » Be my guest! Seien Sie mein Gast.« Und im nächsten Augenblick war ich so nah bei ihm, wie ich es mir die ganze Zeit gewünscht hatte.
Irgendwann im Verlauf der nächsten Stunden merkte ich, dass auch ich ihm gefiel. Es hatte etwas sehr Vertrautes, Intimes, wie wir so nebeneinandersaßen und redeten. Einmal glaubte ich im Blick der vorbeikommenden Stewardess ein Schmunzeln zu erkennen. Sie hatte mich den Platz wechseln sehen. Aber da ich mich neben diesem fremden Passagier befand, war alles andere unwichtig geworden.
Ein Paar, das in der mittleren Sitzreihe der Maschine saß und dem Äußeren nach wohl aus Somalia stammte, schaute ab und an missbilligend zu uns herüber. Denn inzwischen hatte ich Marvin gebeten, meinen Kopf auf seine Schulter legen zu dürfen. Tatsächlich hatten sich die nervöse Spannung und der Wunsch, ihm ganz nah zu sein, so zugespitzt, dass ich mich nicht mehr zurückhalten konnte und ihm bei meinem Anliegen erneut meine Nackenschmerzen als Grund angab. Wieder antwortete er ohne mit der Wimper zu zucken: »Be my guest!«
»Versteh mich bitte nicht falsch …«
»Natürlich nicht!«, versicherte er, und sofort lehnte ich mich an ihn und legte meinen Kopf auf seine Schulter. Ich spürte, wie sein Körper leicht bebte. In diesem Augenblick wusste ich, dass er lachte.
»Na gut, dann lach eben«, sagte ich und lachte ebenfalls. »Okay«, gestand ich, »nicht mein Nacken ist schuld – ich wollte mich einfach anlehnen.«
Belustigt sah er mich an. »Das habe ich mir gleich gedacht, ich wollte nur sichergehen.« Und dann zog er mich an sich und drückte meinen Kopf sanft auf seine Schulter.
In dieser Position redeten wir weiter, amüsierten uns immer wieder darüber, was wohl die Stewardessen und unsere Sitznachbarn über uns dachten. Schließlich schwiegen wir, um ein wenig zu schlafen. Ich genoss die Innigkeit zwischen uns, wohl wissend, dass unser Zusammensein nur von kurzer Dauer sein würde. Doch in den wenigen Stunden an Bord dieses Flugzeugs, das sich unweigerlich London näherte,
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