Das Leben kommt immer dazwischen: Stationen einer Reise
und Krankenhaus hin und her, immer in der Gewissheit, dass sie bald genesen würde. Jetzt erfuhr ich, dass ihr Leben in Gefahr war, falls man sie nicht in eine Londoner Spezialklinik brachte. Doch schon Wexham war weit weg von Bracknell. Im Berufsverkehr brauchte ich fast eine Stunde bis dorthin, und nach London würde ich kaum jeden Tag fahren können.
»Sollen wir die Überweisung veranlassen? Wir brauchen dazu Ihre Unterschrift.« Ich nickte nur. In meinem Kopf war meine Mutter schon in London.
»Sie kommt auf die Intensivstation.«
»Wieso denn das?«
»Es ist nicht sicher, ob sie überlebt«, sagte er sachlich. Dabei fuhr er sich nicht mehr mit der Hand durch die Haare.
Ich begleitete meine Mutter nach London und wurde aufgrund ihres äußerst ernsten Zustands in einer für Familienangehörige zur Verfügung stehenden Wohnung auf dem Krankenhausgelände untergebracht. Zum Glück fingen bei Akinyi gerade die Schulferien an. Ich hatte sie zu ihrem Vater gebracht, sodass ich mich ganz meiner Mutter widmen konnte.
Es war eine schreckliche Zeit. Jeden Tag saß ich an ihrem Bett und beobachtete, wie Krankenschwestern und Ärzte ihr Nadeln in die Haut stachen und ihr verschiedenste Medikamente verabreichten. Im Hintergrund arbeitete rund um die Uhr das Dialysegerät.
»Kann ich bitte mit Ihnen reden?« Wieder stand ein junger Arzt vor mir. Diesmal jedoch einer, dessen kurzes, pechschwarzes, ordentlich nach hinten gekämmtes und pomadisiertes Haar auf ausgiebige Pflege schließen ließ. »Es geht um Ihre Mutter.«
Das hätte ich mir fast denken können – diese Worte lagen mir auf der Zunge, aber ich schluckte die Bemerkung herunter. Den jungen Arzt hatte ich schon einige Male auf der Station gesehen. Er schien es immer eilig zu haben und war sich seiner ärztlichen Machtposition inmitten der vielen Schwestern offenbar vollauf bewusst.
»Wann wollen Sie mit mir sprechen?«, fragte ich stattdessen höflich.
»Jetzt, falls Sie Zeit haben.«
Meine Mutter schlief.
»Ich habe Zeit.«
»Gut, dann kommen Sie mit mir.«
Er drehte sich um und verließ die Station. Ich folgte ihm mit mulmigen Gefühlen.
Das Zimmer, in das er mich führte, war eigentlich für Familienmitglieder reserviert, die den ganzen Tag bei ihrem kranken Angehörigen verbrachten. Es war bequem eingerichtet und in ansprechenden Farben gestaltet. Erst später erfuhr ich, dass man nur dann dorthin gebracht wurde, wenn ein Arzt einem etwas Schlimmes mitzuteilen hatte.
Jetzt stand ich in dem kleinen Raum am Fenster, zu dem ich mich vor den Worten des jungen Mediziners geflüchtet hatte.
»Sie wollen mir also tatsächlich zu verstehen geben, Sie hätten vor, das Dialysegerät abzuschalten, obwohl Sie wissen, dass meine Mutter dann möglicherweise stirbt?«, fragte ich, nachdem der Arzt ausgeredet hatte.
Durch meinen Tonfall ließ er sich nicht aus der Ruhe bringen. Nicht die leiseste Spur Mitgefühl war von ihm ausgegangen, als er sein weiteres Vorhaben erklärt hatte.
»Und noch dazu wollen Sie es meiner Mutter sagen?«
»Ja, ich denke, wir sollten es ihr sagen. Wenn sich ihr Zustand bis zum Ende der Woche nicht durch die medikamentöse Behandlung stabilisiert hat, müssen wir die Maschine abschalten.«
»Einfach so?«, fragte ich ungläubig.
»Natürlich nicht einfach so«, antwortete er stirnrunzelnd. »Es tut uns natürlich sehr leid. Aber es kostet eine Menge Geld, das Gerät laufen zu lassen, und Ihre Mutter hat leider keine Versicherung. Wer zahlt für ihre Behandlung? Das Krankenhaus kann sich diese Kosten nicht leisten.«
»Aha, es ist wegen des Geldes. Deswegen wollen Sie das Gerät abschalten?«
Ohne mit der Wimper zu zucken, erwiderte er: »So ist es, leider.«
Langsam trat ich auf den Arzt zu. Ich nahm ihm gegenüber Platz, schaute ihm geradewegs in die Augen und sagte bestimmt:
»Hören Sie mir genau zu. Sie werden meiner Mutter nichts sagen. Gar nichts! Und Sie werden auch das Gerät nicht abschalten! Erstens: Wann und wie meine Mutter erfährt, dass sie sterben wird, darf immer noch die Familie entscheiden. Zweitens: Wegen der Kosten werde ich herausfinden, was machbar ist und was nicht. Und drittens: Sie haben mir diese Nachricht ohne jede Vorbereitung mitgeteilt, ohne jede Beratung, wie ich damit fertig werden kann. Sie wissen, dass meine Mutter noch andere Verwandte hat. Sie haben ja gesehen, dass sie Besuch hatte. Und trotzdem haben Sie es nicht für nötig befunden, mich zu fragen, ob ich bei diesem
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