Das Leben kommt immer dazwischen: Stationen einer Reise
mehr viel aus dem Haus, da ich mich die meiste Zeit um sie kümmerte. Starke Beinschmerzen quälten sie, und es war schon die Rede von künstlichen Hüftgelenken. All dies stimmte sie oft missmutig, und ich musste viel Geduld aufbringen.
Da ich ihren Unmut und das bedrückende Gefühl des Alleinseins nur zu gut verstehen konnte, suchte ich nach einem Ausweg. Schließlich fand ich eine Gruppe älterer Frauen, die sich einmal die Woche zum Tee trafen und verschiedenes miteinander unternahmen. Zwar hatte meine Mutter ihre Schwierigkeiten mit dem Englischen, aber ich war mir sicher, dass sie mit der Zeit damit zurechtkommen würde. Und so ging es langsam bergauf.
Oft fragte ich mich damals, wer von uns beiden das Kind und wer die Mutter war. Ohne es zu wollen, kam bei mir nach der erschöpfenden Zeit großer Sorgen und intensiver Pflege manchmal eine Art Unwille auf. Die Beziehung zwischen meiner Mutter und mir war kompliziert, selbst wenn wir nie darüber sprachen. Seitdem ich sie als Dreizehnjährige kennengelernt hatte, trug ich das Gefühl mit mir herum, ich würde ihr etwas schulden. Vielleicht, weil ich sie in den langen Jahren der Trennung tatsächlich vergessen und sie auch nicht aus der Ferne geliebt hatte. Irgendwie meinte ich, etwas wiedergutmachen zu müssen und für sie verantwortlich zu sein. Obwohl es im Grunde umgekehrt hätte sein müssen – war doch sie diejenige gewesen, die mich abgegeben, mir ihre Mutterliebe entzogen hatte.
Diese Gedanken bekümmerten mich. Ich wünschte mir wenigstens eine gemeinsame Geschichte mit ihr, gemeinsame Erlebnisse der Freude und der Trauer – eben alles, was zu einem Familienleben dazugehörte. Und etwas, was als Rechtfertigung dienen konnte für die harte Arbeit und die Entbehrungen, die ich jetzt ihretwegen erdulden musste. Dann dachte ich an meine eigene Tochter und wusste wieder, warum ich das alles tat. Es war für sie. Akinyi hatte noch eine Chance, eine gute Beziehung zu meiner Mutter zu entwickeln, während es für mich möglicherweise zu spät war. Zu ihrer Großmutter konnte meine Tochter ein intaktes Verhältnis ohne die Belastung irgendwelcher Familientragödien pflegen, dachte ich. Wenn es mir gelang, die Dinge so zu sehen, fiel es mir plötzlich nicht mehr schwer, für meine Mutter da zu sein.
Während ihres Krankenhausaufenthalts hatte ich die Behörden davon unterrichtet, warum meine Mutter das Land nicht nach Ablauf ihres Visums verlassen konnte. Nun stellte sich die beunruhigende Frage, was aus ihr werden würde, falls man sie auswies. Wir hatten in Kenia ja nicht die besten Erfahrungen mit der verwandtschaftlichen Pflege gemacht. Alle waren zu sehr mit den eigenen Problemen beschäftigt gewesen. Und ob meine Mutter dort die richtige medizinische Weiterbehandlung bekommen würde, erschien ebenso zweifelhaft.
»Warum fragst du nicht, ob sie ganz bei dir bleiben kann?«, schlug mir eine Freundin vor, der ich von meinen Bedenken erzählt hatte.
»Unmöglich. Die sind so streng mit uns Afrikanern.«
»Versuch es einfach mal. Erkundige dich bei einem Rechtsanwalt.«
»Dafür bräuchte ich Geld«, entgegnete ich resigniert.
»Sicher, normalerweise. Aber euer Fall ist ungewöhnlich. Deine Mutter ist krank. Ich erkundige mich mal, was sich da machen lässt.«
So nahm ich mit der Starthilfe der Freundin den langen, beschwerlichen, mit Papierkrieg, Fahrerei, endlosen Telefonaten und Amtsterminen verbundenen Weg auf mich, der meiner Mutter eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung in England verschaffen sollte. Eines Tages traf dann zu unserer Freude ein Brief ein, der uns von dem Beschluss der Ausländerbehörde unterrichtete, dass Grace Kezia Aoko Obama in Großbritannien bleiben durfte. Es folgte ein offizielles Dokument, versehen mit dem königlichen Siegel Ihrer Majestät Elizabeth II .
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Endlich konnte ich ganztags für das Jugendamt in Bracknell arbeiten. Dort war innerhalb des Programms »Connexions« eine neue Stelle geschaffen worden, und so war es mir möglich, meinen Job als Projektmanagerin zu kündigen. Jetzt half ich Kindern und Jugendlichen aus schwierigen Familienverhältnissen bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz oder einer beruf-
lichen Tätigkeit.
Ich war schon fast zwei Jahre dabei, als ich mit dem »Fall Bridget« betraut wurde. Bridget war gerade siebzehn geworden und obdachlos. Da minderjährig und ohne festen Wohnsitz, hatte sie Anspruch auf staatliche Hilfe, die sie bei den Behörden von
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