Das Leben kommt immer dazwischen: Stationen einer Reise
dann in meinen Wohnblock zurück, zog mir die Schuluniform aus und machte mich auf den Weg nach Hause. Andere betroffene Mädchen machten es genauso. Die Schule fühlte sich allerdings nicht verpflichtet, unseren Eltern mitzuteilen, dass man uns entließ. Also brachen wir auf, ohne dass sie Bescheid wussten; in meinem Fall bedeutete das einen etwa drei Kilometer langen Fußweg.
Tauchte ich an solchen Tagen unangemeldet bei meinem Vater auf, im Krankenhaus oder, nach seiner Entlassung, zu Hause, sah er mich stets mit vorwurfsvollem Blick an, so als hätte ich die Schule geschwänzt. Jedes Mal versuchte er, mich umgehend in sie zurückzuschicken. Er rief ein paar Freunde an, die ihm versprachen, bei der Bezahlung des Schulgelds behilflich zu sein. Dann stellte er einen Scheck aus und schickte mich wieder los.
Vor diesen Schecks graute mir. Denn ich wusste – und mein Vater wusste es auch –, dass sie nicht gedeckt waren. Es war ganz einfach kein Geld vorhanden. Die Freunde meines Vaters hielten ihre Zusicherung, ihn zu unterstützen, in den seltensten Fällen. Und so wurde ich binnen weniger Tage mehr als einmal nach Hause entlassen und musste meinen Vater erneut um das Schulgeld bitten. Besonders schlimm war dies in der Zeit, als er in der Klinik lag, da ich schon im Voraus wusste, dass ich nichts von ihm erhalten würde. Mit jedem Besuch musste ich mir einen härteren Panzer zulegen, um mit der schrecklichen Situation fertig zu werden. Der Panzer wuchs und wuchs, bis er so dick war, dass ich mich vollkommen von meinem Vater und den Schmerzen, die ich in seinem Gesicht las, distanzierte.
7
Die häuslichen Schwierigkeiten hinterließen ihre Spuren; ich wurde still und reserviert. Obwohl ich in der Schule als extrovertiert und selbstbewusst galt, als eine, die immer einen Scherz auf den Lippen hat und zu jedem Unsinn bereit ist, zog ich mich zu Hause in mich zurück und wurde sehr schweigsam. Ich fühlte mich unverstanden. Denn im Vergleich zu dem, was manch andere Familienangehörige zu leiden hatten, fand man meine Probleme nicht weiter schlimm. Man nannte meine Empfindlichkeit »europäisch« – und zog mich damit auf. Zwar sei meine Stiefmutter fort, aber ich hätte doch noch meinen Vater, hieß es. Obwohl er in Geldnöten stecke, schaffe er es immerhin doch irgendwie, mir die hervorragende Ausbildung an der teuren Kenya High School zu bezahlen. Wenigstens das sei mir geblieben. Überdies zweifelte inzwischen niemand mehr daran, dass bald meine leibliche Mutter zurückkehren würde. Es war die Zeit, in der Abongo sich größte Mühe gab, sie nach Hause zu holen.
Wie das vonstattengehen sollte, konnte ich mir allerdings nicht vorstellen. Wir lebten ja nicht in einem traditionellen polygamen Luo-Haushalt, in dem jede Ehefrau ihre eigene Unterkunft hatte und der Mann sein simba , wie wir das Gebäude des Mannes auf Luo nennen. Auf einem solchen Hof konnten auch Eheleute, die sich lieber aus dem Weg gingen, einigermaßen problemlos zusammenleben. Wir aber wohnten in der Stadt, in einem Einfamilienhaus. Wie sollte das Ehe- und Familiendasein funktionieren, wenn meine Mutter nur unseretwegen zurückkam? Was würde passieren, wenn sich unsere Eltern nicht verstanden?
Mein Bruder stellte sich all diese Fragen offenbar nicht. Ihm ging es lediglich darum, unsere Mutter wieder bei uns zu haben. Als ihm dies schließlich gelang, blieb sie aber nur eine einzige Woche. Ich war damals fünfzehn Jahre alt. Ebenso viele Jahre waren seit der Zeit vergangen, in der meine Mutter gemeinsam mit meinem Vater gewohnt hatte, und elf Jahre war es her, seitdem wir Kinder unsere leibliche Mutter hatten verlassen müssen. Zu viel war inzwischen passiert. Sosehr Abongo es sich auch wünschte, unsere Eltern fanden nicht wieder zueinander. Und mich wunderte das nicht. Mein Vater fühlte sich gefangen und meine Mutter vernachlässigt.
Die eine Woche, die das Familienexperiment dauerte, war, mit einem Wort, eine Katastrophe. Ich erinnere mich noch, dass ich mich damals auf einen Schulausflug vorbereitete, eine Abenteuerexpedition in die Wildnis, verbunden mit einer Besteigung des Mount Kenya. Bevor die Reise losging, redete ich mit meiner Mutter. Ich setzte mich zu ihr, schaute ihr geradewegs in die Augen und sagte ihr, ich wolle nicht, dass sie meinetwegen bei meinem Vater blieb. Falls sie nur unseretwegen da sei, solle sie wissen, dass sie sich mir zuliebe nicht zwingen müsse, bei uns zu leben. Ich sei nun
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