Das Leben kommt immer dazwischen: Stationen einer Reise
klingen.
»Wenn sie spielen will, darf sie auch spielen«, entschied dieser.
Obwohl ich mir einige Male die Autorität meines Vaters zunutze machte, um mich gegen meinen Bruder durchzusetzen, und dieser mir seinerseits ständig damit drohte, ihm von meinen Untaten zu berichten, versuchten wir doch in der Regel unsere Auseinandersetzungen untereinander zu klären.
An einem Wochenende zu Hause entspannt mit meinem Vater zusammenzusitzen und Musik zu hören, erschien mir dagegen vollkommen abstrus. Nicht nur hatte ich Angst vor ihm als Respektsperson, in mir rumorte ziemlich stark die Wut über die verlorene Familie und die Sehnsucht nach der verschwundenen Mutter. Hätte mein Vater sich nur früher für uns interessiert, dachte ich immer wieder, während ergreifende Klänge den Raum füllten, dann hätten wir vielleicht ein anderes Verhältnis. Aufgewühlt und voller widersprüchlicher Gefühle lauschte ich den Flöten und Violinen aus Schuberts 5 . Sinfonie und kam nicht von dem einen Gedanken los: Warum kann nicht alles wieder so sein wie früher?
Zwar begriff ich damals durchaus, dass mein Vater die Musik und das Gespräch brauchte, um die Leere zu übertönen, die sich in seinem Leben ausgebreitet hatte, aber ich gönnte ihm diese Flucht nicht. Wo blieb denn ich dabei? Sah er denn nicht, dass es mir genauso erging wie ihm? Hatte er sich überhaupt jemals ernsthaft Gedanken über meine Empfindungen gemacht? Zugleich aber ahnte ich, dass mein Vater mir deshalb keine Fragen zu meiner seelischen Verfassung stellte, weil er Angst vor den Antworten hatte. Und auch ich verlangte von ihm keine Rechenschaft. Ich vermied das ehrliche Gespräch, denn als wohlerzogenes Kind war ich nicht befugt, mich gegen die Entscheidungen meiner Eltern aufzulehnen. Einem Erwachsenen durfte ich grundsätzlich nicht widersprechen. So blieb ich stumm und hörte nur frustriert der Musik zu.
Mit dem Abstand der Jahre durchschaue ich besser, was sich in den sechziger und siebziger Jahren im Leben meines Vaters abgespielt hat und welche politischen Kämpfe seinen beruflichen Alltag bestimmt haben. Er war hoch motiviert von seinem Studium in den Vereinigten Staaten zurückgekehrt und glaubte, einen bedeutenden Beitrag zum Aufbau seiner Heimat leisten zu können. Er wechselte vom privaten Sektor in den Staatsdienst, ins Finanzministerium, wo er seiner Überzeugung nach von echtem Nutzen sein konnte. Aber als Erstes musste er erfahren, dass er sich mit seinen Vorstellungen von der Entwicklung des Landes den herrschenden Verhältnissen unterzuordnen hatte. Die Machthaber schienen kein wirkliches Interesse daran zu haben, Kenia voranzubringen. Viel eher schien ihr Anliegen zu sein, ihre eigenen Positionen auszubauen. Die ehrlichen Bemühungen meines Vaters, den Regierenden mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, wurden mit Handlungsunwillen und sogar Feindseligkeit beantwortet.
Was meinem Vater schließlich zum Verhängnis wurde, war die Tatsache, dass er als promovierter Ökonom vielfach kompetenter war als viele seiner Vorgesetzten und sich nicht davor scheute, ihnen dies auch klarzumachen. Überdies war er ein Luo, womit er in der damaligen politischen Konstellation keinen leichten Stand hatte. Auf den Regierungsposten saßen nämlich vor allem Kikuyu. Sie hatten im Konflikt, der sich infolge des unter der Kolonialherrschaft entstandenen Misstrauens zwischen den verschiedenen Volksgruppen entzündet hatte, und im Zuge ethnisch begründeter Vetternwirtschaft die meisten Vorteile für sich errungen. Mein Vater weigerte sich, das Spiel von Korruption und Nepotismus mitzuspielen. Diese beiden Elemente der politischen Praxis kritisierte er lautstark – und wurde deshalb systematisch als »neunmalkluger« Luo abgekanzelt und so weit an den Rand gedrängt, bis man ihm schließlich seine Stelle kündigte. Seine Bemühungen, eine neue Arbeit zu finden, wurden landesweit blockiert. Auch musste er seinen Pass abgeben, damit er nicht ins Ausland ging.
Mit seiner wachsenden beruflichen Unzufriedenheit wurde auch seine Beziehung zu meiner Stiefmutter zunehmend angespannter, bis sie sich am Ende auflöste. Damit hatte mein Vater neben dem verlorenen Job auch keinen familiären Rückhalt mehr. In dieser Situation versuchte er für meinen Bruder und mich da zu sein. Heute kann ich verstehen, warum ihm das nicht gelungen ist. Ohne eine Tätigkeit und ohne Geld, zudem politisch ausgegrenzt, kam er beim besten Willen nicht wieder auf die Beine.
Häufig habe ich
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