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Das Leben kommt immer dazwischen: Stationen einer Reise

Das Leben kommt immer dazwischen: Stationen einer Reise

Titel: Das Leben kommt immer dazwischen: Stationen einer Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Auma Obama
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mit meinen fünfzehn Jahren alt genug und bräuchte keine Bemutterung mehr. Und die verlorenen Jahre würden wir auch nicht mehr nachholen können.
    Als ich von der Expedition zurückkehrte, war meine Mutter fort. Erst Jahre später, beim Tod meines Vaters, wurde sie wieder ein Teil unserer Familie. Als seine erste Frau beerdigte sie ihn traditionsgemäß und nahm erneut ihren Platz auf dem Hof der Familie in Alego ein.
    Jedes Mal, wenn ich nach den Ferien wieder im Internat war, hatte ich das Gefühl, eine riesige Last sei mir von den Schultern genommen. Das Mädchen, das zu Hause wenig sprach und sich am liebsten hinter einem Buch verkroch, verschwand, und an seine Stelle trat der freche Wildfang der Grundschulzeit. Ich war laut und verspielt wie die meisten anderen in meiner Klasse. Die Probleme, die mich in der Familie bedrückten, verdrängte ich in der Schule mit Erfolg. Wo gelacht wurde, lachte ich am lautesten. Wo Späße ausgeheckt wurden, war ich ganz vorne dabei. Es sollte niemand merken, welcher Kummer an mir nagte.
     
    Dann tauchte Peggy Flint auf, eine junge amerikanische Lehrerin, die vom US -Peace Corps, dem Friedenscorps der Vereinigten Staaten, an unsere Schule geschickt worden war, um Musik zu unterrichten. Was sie vorfand, entsprach ganz und gar nicht ihren Erwartungen. Wie sie mir später erzählte, machte sie schon bei der Ankunft große Augen. Aus dem Taxifenster erblickte sie das imponierende Eingangstor des Schulgeländes, auf dessen gewundenen gusseisernen Stäben der beeindruckende Wahlspruch der Schule prangte: »Servire est regnare« (»Dienen ist Herrschen«). Und über diesen drei Worten lag ein brüllender Löwe. Durch das imposante Tor gelangte Peggy Flint in ihrem Taxi auf ein Gelände, das an die Umgebung einer englischen Privatschule erinnerte. Ihr Blick wanderte über einen gepflegten Rasen, an grünen Hecken und Blumenbeeten entlang. In der Ferne erahnte sie eine von hohen Bäumen halb verdeckte Freilichtbühne. Ein Schild wies dem Taxifahrer den Weg zum Schulgarten und zur Klinik, dann bog er ab und hielt vor einem mächtigen, dreistöckigen Gebäude, einem von mehreren, die als Unterkünfte für die Schülerinnen dienten. Gerade noch in Sichtweite erblickte sie die hübsche Kapelle.
    Bei ihrem späteren Rundgang entdeckte Peggy Flint bestens gepflegte Tennis- und Hockeyplätze, eine Turnhalle und ein großes Schwimmbecken. Nicht weniger bemerkenswert erschienen ihr die gut ausgestatteten Klassenzimmer, nirgendwo standen klapprige Schulbänke. Zudem stand die Kenya High School auf mehreren Morgen üppig bewachsenen Landes. Weit und breit waren keine Hütten oder fensterlose Flachbauten mit Wellblechdächern zu sehen. Keine barfüßigen afrikanischen Kinder, die mit den Büchern auf dem Kopf meilenweit bis zu ihrer Schule hatten laufen müssen, plagten sich dort, um sich Wissen in einer Sprache anzueignen, die sie kaum verstanden, geschweige denn lesen oder schreiben konnten. In der Kenya High School konnte man leicht vergessen, dass man in Kenia war – wären da nicht die vielen schwarzen Gesichter gewesen.
    Peggy Flint war mit ganz anderen Visionen in dieses Land gekommen. Sie hatte angenommen, ihre Aufgabe werde darin bestehen, notleidenden afrikanischen Kindern zu helfen. Enttäuscht musste sie nun feststellen, dass die meisten Schülerinnen, die sie in Zukunft unterrichten sollte, keineswegs unter Geldmangel litten, dass ihnen nicht der Hauch von Armut anhaftete – auf jeden Fall nicht sichtbar. Denn die meisten stammten aus wohlhabenden Familien, die nicht im Geringsten dem Bild von den armen, entwicklungsbedürftigen Afrikanern entsprachen. Daher bemühte sich Peggy Flint, wie ich später erfuhr, schon nach kurzer Zeit intensiv darum, an eine ländliche, »einheimischere« Schule versetzt zu werden.
    Doch abgesehen von ihrer Enttäuschung angesichts der »europäisierten« Schülerinnen, kam Miss Flint, wie wir sie nannten, sehr gut mit uns Mädchen zurecht. Ich fühlte mich vom ersten Augenblick an zu ihr hingezogen. Sie war eine echte Frohnatur, und anders als ich zeigte sie ihre Gefühle offen, trug ihr Herz förmlich auf der Zunge. Sie unterhielt uns mit spannenden und verblüffenden Geschichten aus ihrem Leben in den USA . Dort hatte sie in einem Armenviertel in einer überwiegend von schwarzen Kindern besuchten Schule unterrichtet und es sich zur Aufgabe gemacht, diesen aus ihrer Misere herauszuhelfen. Nun wollte sie dasselbe hier in Afrika tun.
    Miss Flint wohnte

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