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Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Titel: Das Leben meiner Mutter (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oskar Maria Graf
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Volksverräter!« schrie es da und dort.
    »Judenknechte!« gellte es weithin. Finstere Gesichter wurden sichtbar. Fäuste reckten sich. Ein kurzer, schneidend scharfer Kommandoruf zerriß die geladene Luft. Die Reiter machten plötzlich eine Wendung auf uns zu. Die Pferdehufe begannen gleichmäßig zu klappern. Der Menschenstrom wich zurück. Einige fingen kopflos zu laufen an und überrannten die vor ihnen Hergehenden. Frauen schrien schrill auf.
    »Auseinandergehn! Auseinandergehn!« riefen die Schutzleute und Militärpatrouillen von beiden Seiten. Hin und wieder, wo die Laufenden übereinander gepurzelt waren, entstand eine gefährliche Stockung.
    »Nur langsam gehn! Ruhig! Geh ja nicht in eine Seitengasse!« warnte mich mein Begleiter und deutete hastig nach rechts und links: »Da, siehst du? Die machen sich verdächtig und werden verhaftet.« Ich sah hin und bemerkte mehrere solche Festnahmen. Die Verhafteten plärrten, stritten, wehrten sich heftig und wurden mit Gummiknüppeln überwältigt.
    »Soviel ist sicher, die Nazis sind geschlagen«, raunte mein Freund abermals, und wir atmeten erleichtert auf. Als wir schon weit abgedrängt waren, sahen wir auf einer Litfaßsäule an der Ecke Theresienstraße ein frisch angeklebtes, weißblau umsäumtes Riesenplakat mit der Überschrift: ›An das bayrische Volk!‹ Und die ersten Worte lauteten: »Durch schändliche Erpressung und schmählichen Verrat unverantwortlicher Elemente wurden heute nacht anläßlich einer friedlichen Versammlung vaterländischer Kreise im Bürgerbräukeller der Herr Generalstaatsanwalt Ritter von Kahr und der Kommandant der Münchener Garnison, Herr General von Lossow, dazu gezwungen, eine angebliche, sogenannte ›Nationale Regierung‹ mit politischen Scharlatanen und Abenteurern zu bilden …« Bärtige Bürger mit weißblauen Armbinden verteilten ebenso lautende Flugblätter. Daraus erfuhren wir, was sich inzwischen schon allgemein herumgesprochen hatte: Hitler war in der vorhergehenden Nacht mit einem Trupp bewaffneter Verschwörer in den dichtbesetzten Versammlungssaal gedrungen, hatte – um eine Panik hervorzurufen – ein paarmal in die Luft geschossen, war auf die Rednertribüne gesprungen und hatte die überraschten staatlichen Würdenträger gezwungen, eine von ihm verfaßte Proklamation zu verlesen, welche die nationale Diktatur verkündete. Schnell war Ludendorff geholt worden, der die Armeeleitung übernehmen sollte. In der Zwischenzeit hatten sich die Nazis mit der mitverschworenen Mannschaft einiger Kasernen bemächtigt. Sie sollten Post und Telegraph, den Bahnhof und die Amtsgebäude besetzen und – nachdem der Putsch gelungen war – eine kriegsähnliche Mobilmachung durchführen. In den darauffolgenden Tagen war der Marsch gegen Berlin geplant, um die dortige Regierung zu stürzen und die Macht über ganz Deutschland an sich zu reißen. Den keineswegs damit einverstandenen katholisch-monarchistischen Kreisen um Kahr und Lossow, die auf eine langsame, legale, unanfechtbare Unterwühlung und Abwürgung der Republik hinzielten, war es aber gelungen, rasch die treugebliebenen Regimenter in Aktion zu setzen. Die Menge marschierte, vermehrt durch bewaffnete Hitlergruppen, vom Bürgerbräu in die Stadt, doch am Odeonsplatz standen schon Infanteristen mit angelegtem Gewehr. »Halt!« schrie ein Offizier. Hitler und Ludendorff, die an der Spitze gingen, wurden aschfahl, machten noch etliche Schritte.
    »Halt, oder –« warnte die metallische Stimme des Offiziers.
    »Vorwärts marsch!« schrien etliche im Zug. Da krachten die Salven. Hitler und Ludendorff warfen sich kriegsgeübt auf den Boden, die neben ihnen hergehenden Anhänger sanken getroffen vornüber. In panischem Schrecken lief alles auseinander. Zuletzt lag nur noch der plumpe Körper Ludendorffs auf dem wüsten, leeren Platz. Die Sanitäter wollten ihn auf die Bahre heben. Er hob den Kopf, schaute verdutzt rundherum, stand auf und ging, ohne von einem Polizisten behelligt zu werden, fast beleidigt in die Residenzwache. Die Soldaten und Reiter nahmen unwillkürlich stramme Haltung an und sahen ihrem ehemaligen allmächtigen Führer aus dem Weltkrieg staunend nach. In seinem kotbespritzten, verschobenen, graugrün gesprenkelten Sportanzug hatte er so gar nichts Imponierendes mehr. Er wurde nicht auf der Wache behalten. Er konnte nach Hause gehen. Die bewaffneten Nazis, die sich im Zuge und in den Kasernen befunden hatten, wurden ebenfalls nicht verhaftet. Sie

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