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Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Titel: Das Leben meiner Mutter (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oskar Maria Graf
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öffnete, stürzte ein kleiner, rothaariger Arbeiter ins Atelier, mit dem ich von der Eisnerzeit her befreundet war. Er drückte hastig und ängstlich die Tür zu und fing sprudelnd zu reden an: »Mensch! Du liegst im Bett, und jede Viertelstunde können sie kommen und dich holen.«
    »Wer denn?« unterbrach ich ihn.
    »Wer? … Ja, weißt du denn nichts? … Der Hitler hat heut nacht einen Putsch gemacht. Vom Bürgerbräukeller aus sind sie in die Stadt! Alles ist voll von bewaffneten Nazis! Es heißt zwar, die Regierung Kahr hat die Macht in der Hand, aber es sieht nicht danach aus! Am Odeonsplatz hat’s ein Feuergefecht gegeben … Die Nazis sind wohl auseinander, aber in der Ludwigstraße haben sie ein Anwerbebüro für die neue nationale Armee, die gegen Berlin ziehen soll. Sie ziehen ganz grob und frech jeden Passanten von der Straße hinein und zwingen ihn, einen Meldebogen auszufüllen und gleich da zu bleiben! Und wehe, wenn sie von uns einen erwischen! Es sieht wüst aus in der Stadt! Man kennt sich vorläufig überhaupt noch nicht aus! Mensch, geh bloß gleich mit! Wir mischen uns unter die Massen, da erwischen sie uns nicht.«
    »Warum erwischen?« fragte ich.
    »Wir wissen doch durch die Unsrigen, daß sie Listen angelegt haben … Da sind wir sicher drauf«, klärte er mich auf. Später erfuhr ich auch wirklich, daß ich als einer, der sofort »umzulegen« sei, auf so einer Liste stand.
    »Aber du weißt doch, daß der Ludendorff verhaftet ist, und der Hitler ist davon«, sagte ich, während wir gingen. Er stutzte kurz.
    »Woher weißt du denn das?«
    Ich erzählte ihm, was die Arbeiter im Hof gesprochen hatten.
    »Auf jeden Fall komm! … Wir müssen uns orientieren«, trieb er an.
    Es war kalt und trotz der hohen Sonne noch nebeldunstig auf den Straßen. Der Asphalt glänzte feucht. Da und dort lagen zerknüllte, zerrissene Flugblätter. »Mit Adolf Hitler an der Spitze« und »Berliner Regierung abgesetzt« entdeckte ich darauf. Die raschen Schritte der vielen Menschen hallten seltsam deutlich, denn nur wenige wechselten hie und da ein Wort. Die meisten raunten sich flüsternd etwas zu. Straßenbahnen und Autos waren kaum zu sehen. Ab und zu sahen wir an den Wänden und Litfaßsäulen Fetzen heruntergerissener Plakate. »Erschossen –« oder »An das deutsche Volk« war noch darauf zu lesen. Unwillkürlich fielen mir die Gespräche der Arbeiter in meinem Hinterhof ein.
    »Heut nacht hat er die Macht gehabt, der Hitler!« sagte mein Begleiter. »Hm, und jetzt ist sie schon wieder verweht … Schnell geht das heutzutag’«, erwiderte ich ironisch.
    Je näher wir dem Odeonsplatz kamen, um so dichter stauten sich die aufgeregten Menschen und schoben sich vorwärts. Verstärkte Militärpatrouillen und Schutzleute drängten sie auf die Trottoire, doch sie flossen immer wieder herunter.
    »Schon regieren die wieder!« sagte jemand giftig. Es war unklar, wen er meinte: Die Patrouillen oder die Massen.
    Der schwere Strom wälzte sich der weithin sichtbaren Feldherrnhalle auf dem Odeonsplatz zu. Vor dem Kriegsministerium, an dem wir vorüberkamen, standen sogenannte »Spanische Reiter« aus Stacheldraht und drohende Maschinengewehre. Feldgraue Wachtposten mit Stahlhelm, umgehängten Handgranaten und aufgepflanztem Bajonett gingen stumm auf und ab.
    »Wo sind denn die Werbebüros der Nazis?« fragte ich meinen Begleiter und suchte rundherum. Er deutete auf die großen Fenster der Hofgartenkaffee-Häuser, die auf die Ludwigstraße führten. Etliche waren eingeschlagen.
    »Da, da waren sie! … Weg sind sie!« erwiderte der Befragte.
    »Halt! Weitergehen verboten!« riefen auf und ab gehende Soldaten. Unsere Menschenmauer stand auf einmal vor den prallen Pferdehintern feldgrauer Reiterpatrouillen, die den Zugang ins Stadtinnere abriegelten. Lanzen mit weißblauen, winzigen Wimpeln trugen die Reiter.
    »Kosaken!« schrie ein Mann. Irgendwo entstand ein jähes, fast wortloses Geraufe. Dann schleppten Schutzleute einen schimpfenden, blutiggeschlagenen Mann in die nahe Residenzwache. Die Pferde der Lanzenreiter trippelten unruhig auf dem feuchten Pflaster. Ab und zu – blitzschnell aus der dichten Menge hervorschießend und wieder in ihr verschwindend – stieß jemand den Spazierstock in so einen Pferdehintern. Der Reiter schwankte kurz, da das erschrokkene Pferd hochging, preßte seine Schenkel fester zusammen und zog die Zügel straff. Der Gaul trappte erregter auf seinem Platz.
    »Schufte!

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