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Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Titel: Das Leben meiner Mutter (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oskar Maria Graf
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pflichtete sie bei, und ich argumentierte weiter: »Je kleiner das Amt, um so gewichtiger kommt sich so ein Idiot vor, um so tyrannischer ist er, wenn er’s sein kann! So ist’s immer, mag eine Regierung sein, was für eine auch! … Denk doch nach, wir haben den Krieg verloren, wir haben die Revolution nicht durchgeführt … Wir sind außerdem ein besiegtes Land –«
    »Tja«, fiel mir der ergrimmte Maurus ins Wort, »und nichts Dümmeres als die, die uns besiegt haben … Was erreichen sie denn mit ihrer Rheinlandbesetzung? Wart einmal ab, da wird bald jeder Deutsche rebellisch! Auf einmal fangen sie dann wieder an mit Vaterland und Patriotismus und diesem ganzen Blödsinn, und womöglich lassen sie sich wieder in so einen saudummen Krieg hetzen! … Herrgott, ich glaub’ fast, du hast recht, Revolution müßt’ man machen, aber eine richtige!«
    Die Mutter, die ihren Kaffee auslöffelte, mischte sich ein und sagte wie nebenher: »Sie sagen, jetzt kommt der Hitler … Der will alles ganz anders machen, und da wird’s dann besser … Hm, ich weiß nicht, es ist noch nie was Besseres nach’kommen!«
    Die kleine fünfjährige Annamarie kam mit hochroten Backen zur Tür hereingelaufen, grüßte mich geschwind und zeigte eine Menge kleiner Blätter, die wie Inflationsbanknoten aussahen.
    »Jaja, wo hast denn jetzt du das viele Geld her?« fragte unsere Mutter ein wenig erschrocken und nahm so ein Blatt.
    »Das ist doch gar kein echtes Geld, Großmutter!« lachte meine Tochter und erzählte, daß drunten auf der Straße ein Lastauto mit Uniformierten durchgefahren sei, die hätten die Scheine heruntergeworfen. Maurus und ich sahen uns die Blätter genauer an. Auf ihrer Rückseite trugen sie ein Hakenkreuz, und dann war darauf zu lesen: »Deutscher Bauer! Mit diesen wertlosen Papierfetzen schwindelt dir die Berliner Judenregierung deine Produkte ab! Wehre dich dagegen, eh du ganz ausgeplündert bist! Verjage die Juden von deinem Hof! Weg mit der Bonzensippschaft in Berlin! Nieder mit dem internationalen jüdischen Schandvertrag von Versailles! Deutsches Volk, erwache! Kämpft alle mit der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei Adolf Hitlers gegen Aushungerung, Schmach und Schande!«
    »Soso! So weit ist’s schon!« sagte ich gedehnt und innerlich aufgeschreckt. »Bis zu euch dringen die schon, hmhm!«
    »Siehst du, ich hab’ mich nie um Politik gekümmert! Mir ist dieses ganze Zeug ekelhaft und zuwider«, redete der Maurus weiter und wurde von Wort zu Wort bitterer, »aber, sag doch selbst, wer kümmert sich in diesem Staat eigentlich wirklich um uns, um die kleinen Leute? Keiner, radikal keiner! … Und wir sind doch schließlich Deutschland! Wenn wir nicht schuften und rackern, was wird denn nachher? … Mensch, ich bin im Krieg draußen gewesen und bin heimgekommen. Ich hab’ mich geschunden und geplagt, daß ich durch meine Konditorei wieder eine einigermaßen ordentliche Existenz krieg’. Und was ist’s jetzt? … Nichts hat mehr einen Halt! Alles ist Schwindel und Krampf! Schau dir doch rundrum die Leut’ an … Im Grund ist jeder ein gieriger Halsabschneider geworden! Jeder schaut bloß, daß er aus dem ganzen Abrutsch möglichst viel Vorteil ’rausschindet … Schau bloß die Bauern an! Das sind jetzt die abgefeimtesten niederträchtigsten Wucherer! … Alles verkommt! Kein Mensch glaubt mehr an irgendeine Zukunft! Es gibt eigentlich auch gar kein richtiges Deutschland mehr! Es gibt nur noch den Dollar! … Das ist doch unmöglich! So kann’s doch einfach nicht weitergehn! Dafür sind wir doch nicht im Schützengraben gelegen!« Sein sonst stets spöttisches, blasses Gesicht war wutrot: »Und jetzt kommen die Krachmacher, die Hitlers! … Paß auf, wie schnell die Zulauf kriegen, wart ab! … Stell dir doch die Ungerechtigkeit vor, der Pius und die Moni, die halten sich ganz einfach an den Austragsvertrag und geben unserer Mutter jeden Monat hundert Mark, und da tun sie noch, als wie wenn sie weiß Gott wie anständig wären, denn auf dem Papier steht ja bloß, daß sie fünfunddreißig Mark kriegt … Mensch, und da kannst du jetzt prozessieren, wenn du magst … Ist denn das noch eine Gerechtigkeit!«
    Mit hundert Mark konnte man sich damals grad eine Semmel kaufen. Ich wollte viel dagegen sagen, aber unsere Mutter mischte sich jetzt wieder ein: »Geh mir bloß zu! Nochmal aufs Gericht! Nicht um viel Geld … Was ich brauch’, hab’ ich immer noch … Laß bloß

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