Das Leben meiner Mutter (German Edition)
leichter Rührung zurück.
»Ja, ich muß jetzt gehn, Oskar … Bevor ich weg muß, besuch’ ich die Mutter vielleicht noch«, sagte sie und wandte sich zum Gehen. Noch einmal drehte sie sich rasch um und rief: »Und gell, wennst heimkommst, grüß mir fein die Mutter recht, recht gut!« Ich nickte, und sie grüßte kurz. Eine kleine Weile blieb ich stehen und sah ihr nach, bis sie um die Hausecke verschwand. Ihr faltig-wallender, langer Rock schleifte leicht am Boden. Ihr kleiner Kopf war gesenkt, und allem Anschein nach hatte sie die Hände gefaltet. Vielleicht flüsterte sie schnell ein Vaterunser für die Mutter.
Das war unsere letzte Begegnung. Später erfuhr ich, daß sie wirklich am Gelben Fieber gestorben sei. Mir aber war, während ich sinnend weiterging, als hätte mich jemand ganz zart gestreichelt …
In einer stürmischen Herbstnacht, kurze Wochen danach, saß ich mit Maurus und Mutter daheim. Warm und heimelig glomm im Herd das Feuer. Theres und Annamarie, die jetzt schon zur Schule ging, waren zu Bett gegangen. Mutter stopfte an einem Strumpf, und manchmal fielen ihre Augen hinter den Brillengläsern zu.
»Geh doch auch ins Bett, Mutter … Du bist doch so müd«, sagte ich. Sie aber richtete sich immer wieder auf und bestritt alles Müdsein.
»Soso, die Leni hast du gesehn … Hmhm«, fing sie gemächlich an, »hm, die Leni? … Ich weiß nicht leicht einen Menschen, der so gut gewesen ist wie sie … Bis auf Afrika geht’s wieder? … Hmhm, wie die umeinandergeschickt werden! … Wenn s’ kommt, die Leni, nachher mach’ ich ihr extra schöne Schmalznudeln, die hat sie allweil so gern gehabt …« Alles war in ihren Worten: Wehmut und Zärtlichkeit, etliche gute Erinnerungen und der Trost, daß die Leni so geblieben war, wie sie sich einen rechtschaffenen Christenmenschen vorstellte.
»Hmhm, die Leni! Hmhm!« murmelte sie oft und oft vor sich hin, während der Maurus und ich politisierten. Stresemanns geduldige Zusammenarbeit mit dem gleichgestimmten französischen Außenminister Briand hatte allmählich die Räumung der besetzten Gebiete gebracht. Wahrhafte Verständigung und aufrichtige Friedlichkeit machten diese beiden Staatsmänner zu Freunden. Deutschland war in den Völkerbund aufgenommen worden. Der Deutsche und der Franzose hatten je die Hälfte des Friedens-Nobelpreises bekommen. Ihre klug abwägende Politik beeinflußte die Haltung ganz Europas. Kurz bevor der letzte Teil des Rheinlandes geräumt wurde, war Stresemann plötzlich an Überarbeitung gestorben.
»Um den ist’s wirklich schad’«, sagte Maurus leicht bewegt, »er war ein wirklicher Staatsmann. Er hat uns Deutschen wieder Respekt verschafft in der Welt … Jetzt hat er seinen größten Triumph nicht einmal erleben dürfen, und wirst sehn, vielleicht lügen sie ihm den auch noch weg! … Herrgott, da haben wir was verloren … Ich glaub’, jetzt wird’s wieder schlechter …« Er reichte mir die Kopfhörer seines primitiv zusammengebastelten Radioapparates, der ihn jetzt tage- und nächtelang beschäftigte, und sagte in anderem Ton: »Da, hör doch einmal! Ganz deutlich und rein klingt’s! … Hörst du? So deutlich ist’s, als ob der Mann bei uns in der Kuchl sitzt.« Ich preßte mechanisch die Hörmuscheln des Kopfhörers an meine Ohren und nickte. Maurus bekam ein strahlendes Gesicht.
»Ist das nicht wunderbar? … Was doch das menschliche Hirn alles ausdenkt! Es ist einfach ungeheuer! In Stuttgart oder noch viel weiter weg redet einer, und wir hören es! Ich kann im Bett liegen und mir von irgendwoher die schönste Mozartmusik anhören – großartig! Und du wirst sehn, wie schnell sie das noch verbessern! Zuletzt hört man die ganze Welt in seiner kleinen Kuchl!« rief er begeistert und preßte der erwachenden Mutter die klemmenden Hörer auf: »Da, Mutter, hör doch einmal. Das kommt bis von Stuttgart! Bis von Stuttgart! Hörst du’s?«
»Jaja, ich hör’ schon was«, nickte unsere Mutter ziemlich gleichgültig.
»Hm, sonderbar«, sagte ich von irgendeiner nachdenklichen Rührung angeweht und schaute auf Maurus, »da fällt mir immer der selige Pfarrer Jost ein … Ich weiß noch gut, ich bin damals noch in die Schule gegangen, wie er fort hat müssen … Weißt du’s noch? … Da hat doch der Maxl gesagt, er kann jeden Tag fortmüssen, es gibt Krieg wegen Marokko … Kannst du dich denn gar nicht mehr erinnern?«
Der Maurus schüttelte den Kopf und schien den Zusammenhang nicht
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