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Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Titel: Das Leben meiner Mutter (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oskar Maria Graf
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mühsam kam sie auf der aufgeweichten, matschigen Straße vorwärts, aber nichts hielt sie ab von der frommen Pflicht. Tropfnaß kam sie heim, und das Kind fror.
    »Geh, Maurus, gib mir ein bißl Rum für den Tee. Mir ist ganz schwummelig«, sagte sie und schüttelte sich.
    »Ist dir nicht gut?« fragte der Maurus.
    »Naß sind wir worden«, war ihre Antwort. Sie ging von der Backstube in die Kuchl. Auch der heiße Tee mit dem Rum wärmte sie nicht auf. Immer noch ging – wie sie sagte – »das Blut nicht durch«. Sie fröstelte noch mehr, wurde blaß, und der kalte Schweiß trat auf ihr Gesicht.
    »Großmutter, was hast du denn?« fragte die kleine Annamarie ängstlich.
    »Ah, nichts«, erwiderte Mutter und sah starr ins Leere.
    Der Maurus kam in die Kuchl. Sie versuchte aufzustehen und sank, wie von einem Schwindel ergriffen, wieder auf die Bank nieder. Hart und trocken atmete sie und hatte die Lippen fest geschlossen. Jetzt wurde ihr Gesicht jäh hochrot und heiß.
    »Mutter, wie siehst du denn aus? Du bist doch krank!« rief der Maurus erschrocken und machte ihr leicht erzürnte Vorwürfe: »Wie kannst du aber auch mit deinen offenen Füßen bei so einem Wetter – –« Er brach ab. Mutter war nach vorne gesunken. Er konnte sie gerade noch halten. Sie richtete sich wieder halbwegs auf, schüttelte den Kopf und brümmelte wie für sich: »Hmhm, was ist denn jetzt das? … Hast du schon einmal so was g’sehn, hmhm!« Der Maurus schrie der Theres. Sie brachten die Fiebernde ins Bett. Sie konnte sich nicht mehr dagegen wehren. So schwach und matt war sie, daß ihre heiße Hand die kleine Annamarie, die an ihrem Bett saß, nicht mehr fand.
    »Großmutter? Großmutter, du darfst nicht sterben! Gell, du stirbst nicht, Großmutter!« rief die Kleine fortwährend und fing zu weinen an.
    Die Kranke lag reglos da. Ihre brennend heißen Augenlider waren geschlossen. Sie rang schwer nach Luft und griff manchmal bangend an ihr Herz. – –
    »Herr Graf! Herr Graf!« schrie ein Arbeiter vom Hof herauf, und als ich endlich aus dem Schlaf schreckte, ergänzte er: »Ans Telefon! … Ein Anruf aus Schloß Berg!« Eilig sprang ich aus dem Bett, schlüpfte in die Hosen und kam in die Steinmetz-Werkstätte hinunter.
    »Ja, Oskar, bist du es? … Ja, hier Maurus!« hörte ich aus der Ohrmuschel des Hörers.
    »Ja, was ist’s denn?« fragte ich.
    »Komm sofort! Mutter ist schwer krank! Sie wird heute operiert und liegt im Starnberger Krankenhaus … Sie stirbt wahrscheinlich! … Ich bin am Bahnhof, wenn du kommst! Fahr gleich ab!« rief Maurus heftig laut und hastig. Ich ließ alles liegen und stehen und fuhr nach Starnberg. Der Maurus hatte ein mitgenommenes, fahles Gesicht. Mit unruhigen Augen sah er mich an und sagte: »Das wird sie nicht mehr überstehen … Sie ist doch schon siebzig Jahr’ alt! … Einen Tumor hat sie im Bauch … Der Doktor sagt, er kann für nichts garantieren, aber operiert muß werden … Jetzt ist’s ein Uhr. Um vier oder fünf Uhr können wir wieder im Krankenhaus fragen, wie alles verlaufen ist.«
    Lange Zeit gingen wir ziemlich einsilbig im belebten Bezirksort herum und wanderten dann auf der Landstraße nach Berg weiter. Jeder hing seinen bedrückenden Gedanken nach. Ich sehe uns noch heute gehen, ich rieche die Herbstluft noch, und der bleigraue Himmel hängt noch in meinen Gedanken, wenn ich mir alles vergegenwärtige.
    »Hm, schrecklich, hm … Unser Mutter«, brachte Maurus einmal stockend heraus. »Sie will gar nicht, daß es ihr einmal gut geht … Unbegreiflich! … Da rennt sie beim größten Regen nach Aufkirchen … Ich wett’, sie hört gar nicht, was eigentlich gepredigt wird, sie schläft doch sofort ein … Du weißt doch noch, wie wir sie als Kinder oft auf den Leim geführt haben … Heim ist sie gekommen vom Hochamt und hat gesagt: ›Schön hat er heut predigt, der Pfarrer! Schön hat er’s g’macht‹, und wenn wir sie dann gefragt haben, was er gesagt hat, hat sie so ein seltsames Gesicht gemacht und gesagt: ›Ja, ich weiß’s jetzt gar nicht, ich glaub’, von Johannes dem Täufer …‹ Wir haben jedesmal lachen müssen, wir haben doch gewußt, daß sie geschlafen hat … Und ihr Beten! Ob sie dabei überhaupt was denkt? Ich glaub’s nicht. Das ist alles bei ihr ewige Gewohnheit … Und doch, sie glaubt, sie betet, sie kann ohne Herrgott und Kirch’ nicht sein! … Rätselhaft, hm, unbegreiflich!« Er sah geradeaus. Es fing dünn zu regnen an.

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