Das Leben meiner Mutter (German Edition)
Der See sah grau und grämlich aus. Die Kempfenhauser Felder hingen schleierig überzogen talwärts. Die verfärbten Laubbäume im Park der Barjatinsky-Villa tropften eintönig.
»Weißt du, manchmal mein’ ich, unsre Mutter ist wie ein Tier oder ein Baum. Sie lebt eben dahin, ob das Sinn hat oder nicht, darüber denkt sie nie nach.« – »Hm«, sagte ich im gleichen Ton wie Maurus, »wenn sie jetzt stirbt, hm, grausam – sie hat gar nie richtig gelebt wie ein andrer Mensch …«
Maurus nickte traurig.
»Wer wohnt denn jetzt in der Barjatinsky-Villa?« fragte ich endlich, um das quälende Gespräch in eine andere Richtung zu bringen.
»Da? … Die Villa wollen jetzt die Jesuiten kaufen. Sie ist doch schon lang leer«, erwiderte der Maurus. »Entweder wollen sie die Villa kaufen oder die Rottmannshöh’ … Dort ist auch schon lang kein Sanatorium mehr. Seltsam, die Pfaffen und die Nationalisten, die werden wieder mächtig jetzt …«
»Ja, der Katholizismus und die ›Nation‹ – wenn man genauer nachdenkt, so stehn sich bloß die zwei Mächte gegenüber. Im Grund genommen ist zum Beispiel der Bolschewismus nichts anderes als ein letzter Ausläufer des Katholizismus, verstehst du, wie ich’s meine? Er ist international, übernational und will eine neue Art Gemeinschaft … Vielleicht ist der Nationalstaat zu eng für die Zukunft … Mir war Nation immer zuwider, zu provinziell …«, diskutierte ich weiter. Da standen wir schon an der Stelle, wo eine Straße nach Unterberg abbiegt.
»Wollen wir heimgehn?« fragte Maurus.
»Ja, mir ist’s gleich«, meinte ich, und er sagte: »Ach nein, gehn wir lieber zur Mutter …« Wir kehrten um, kamen wieder an den verlassenen Villen vorüber, bogen in den Fußweg ein, der die Felder durchschneidet und direkt zur Würmbrücke führt, und gingen wieder nach Starnberg hinein.
»Und wenn sie jetzt stirbt, die Mutter, dann geht alles weiter. Weiter wie immer«, verfiel der Maurus wieder ins traurige Betrachten. Kurz vor der Brücke kam uns ein Kaminkehrer entgegen, und plötzlich, als wären wir wieder Kinder, schaute mich der Maurus hoffnungsvoller an und rief: »Sie stirbt nicht!« Er besann sich geschwind und verbesserte sich gleichsam verlegen: »Vielleicht stirbt sie wirklich nicht, wer weiß!«
»Komisch, warum glauben wir eigentlich an einen solchen Unsinn!« warf ich ein, und doch wurde uns Augenblicke lang leichter. »Wahrscheinlich, weil wir’s ganz fest wünschen«, erwiderte der Maurus belebter, »weiß der Teufel! Es ist schrecklich, daß wir nicht mehr glauben können! Wir sind nur sentimental und denken!«
Es war schon vier Uhr. Im Krankenhaus erfuhren wir, daß die Operation gut verlaufen sei, wir könnten aber die Patientin erst übermorgen besuchen. Erleichtert gingen wir auseinander.
In München, nach meiner Rückkehr, sagte meine Frau: »So eine schwere Operation mit siebzig Jahren, ich weiß nicht! … Wenn ihr Herz gut ist, kann’s vielleicht gut gehen.«
»Ach was!« widersprach ich ihr grundlos zuversichtlich, »unsere Mutter stirbt nicht! Die ist gesünder als wir alle!« In der gleichen Nacht hatte ich einen grausigen Traum. Ich sah den nackten, blutüberströmten Körper meiner Mutter auf dem Operationstisch liegen. Gräßlich sah ihr aufgeschnittener Leib aus, die Därme lagen bloß und rannen haltlos auseinander. Ihre zwei dunkelrot angelaufenen, dikken, offenen Füße streckten sich starr. Ihr Gesicht war unkenntlich.
Ich erwachte wie gerädert und telefonierte an das Starnberger Krankenhaus. »Nacht ist normal verlaufen, Patientin befindet sich wohl«, war der knappe Bescheid. Mit wachsender Unruhe wartete ich, bis endlich der Besuch erlaubt war. Wir kauften Obst und Wein und fuhren nach Starnberg. Als wir – meine Frau und ich – beklommen in den hellen, vom Geruch scharfer Medikamente geschwängerten Krankensaal traten, blieben wir betroffen stehen und staunten starr. Die Mutter saß aufgerichtet im Bett und – lächelte. Ihr blaugeädertes, vielfaltiges Gesicht hatte eine fahle Totenfarbe, doch in ihren Augen schimmerte es fast listig-froh. Ehe wir etwas sagen konnten, rief sie heiter: »Ha, ja! Jetzt hätt’s bald dahingehen müssen! Genau hab’ ich’s beinand’ g’habt!«
Jetzt wußte ich, sie übersteht es! Denn wie sie das gesagt hatte, das klang beinahe wie ein verhaltenes Kichern nach einem gefährlichen Schrecken, der jetzt alles Schreckliche verloren hatte. Sie hatte meine Frau noch nicht oft
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