Das Leben meiner Mutter (German Edition)
recht zu verstehen. Mutter, die immer interessierter wurde, wenn man von Pfarrern und religiösen Dingen sprach, sah fragend nach mir.
»Da, in seiner Predigt damals, da hat der Jost gesagt: ›Haltet euch an die Werke des Friedens, denn sie haben der Welt stets Dauerhafteres gegeben und sie mehr verändert als alle Werke des Krieges!‹ … Weißt du das nimmer? Oder warst du damals nicht in der Kirche?« fragte ich Maurus, doch der entsann sich nicht. Aber offenbar hatten ihm die Worte gefallen, denn nach einigem Nachdenken sagte er plötzlich: »Du, das ist eigentlich sehr gescheit! … Hm, sonderbar, wie du dir alles merken kannst!« Er nahm den Kopfhörer wieder und redete ebenso weiter: »Wirklich, das ist ausgezeichnet! Sehr gut! … Das sehn wir ja jetzt am besten am Radio.«
»Ja, ich geh’ jetzt ins Bett«, meinte Mutter. Vom Sitzen etwas steif geworden, erhob sie sich, gähnte und streckte sich leicht und sah mich an: »Soso, an den Jost denkst du noch hie und da? … Der liegt jetzt auch schon lang unter der Erd’n. An die fünfzehn oder siebzehn Jahr’ kann’s schon her sein, daß er gestorben ist … In Aufkirchen hat er sich eingraben lassen … Soviel Leut’ wie auf dem seiner Leich’ hab’ ich nie wieder gesehn …«
Sie wünschte uns eine gute Nacht und humpelte müde über die knarrende Holzstiege hinauf. – –
Was bleibt? … Die Hühner
In jener verhältnismäßig ruhigen Zeit sprach der Vatikan den bayrischen Mönch Peter Canisius heilig, der um 1543 in unserer Heimat so erfolgreich gegen die vordringende lutherische Reformation gewirkt hatte. Aus diesem Anlaß eröffnete Papst Pius XI. ein »Heiliges Jahr«.
Die Katholiken der ganzen Welt waren hochgestimmt. Mehr denn je fühlten sie sich in diesen ungewissen Zeiten mit Rom verbunden. Von Rußland her drohte der gottlose Bolschewismus, in Italien hatte Mussolini mit Blut und Mord seine glaubensfeindliche faschistische Herrschaft aufgerichtet, und in Deutschland wirkten Hitler und sein antisemitischer Anhang nicht minder gefährlich gegen Religion und Kirche. Jeder Gläubige betrachtete sich gleichsam als Streiter gegen diese antichristlichen, höllischen Mächte.
Mit den kirchlichen Festlichkeiten fiel die Tausendjahrfeier des eben befreiten Rheinlandes zusammen. Hindenburg bereiste die dortigen Städte. Er wurde – nach Zeitungsmeldungen – überall jubelnd empfangen, aber der Jubel blieb sehr formell, denn seltsamerweise wurde Stresemanns Verdienst an dieser Befreiung höchstenfalls einmal in Nebensätzen der offiziellen Kundgebungen gestreift. Viel stärker als alle politischen Manifestationen wirkte die Predigt, die der sonst so vorsichtige päpstliche Nuntius Pacelli im Kölner Dom gegen den krankhaften Chauvinismus und die um sich greifende Glaubenslosigkeit hielt. Sogar unsere Mutter, die aus dem wöchentlichen ›Kirchenanzeiger‹ nur die Messen und Begräbnisse herauslas, erfuhr davon.
Die Leute beteten viel eifriger, füllten weit zahlreicher die mit frischem Birkenlaub gezierten Kirchen, und an jedem Sonntag gab es eine feierliche Prozession. Jahrmärkte wurden in den Pfarrdörfern abgehalten, und die Händler mit geweihten Wachsstöcken und Rosenkränzen, mit Gebetbüchern und frommen Canisius-Bildnissen machten gute Geschäfte. Aber auch die Wirte kamen dabei nicht zu kurz. Die zusammengeströmten Beter drängten sich nach dem Kirchgang in ihren Stuben. Sie aßen und tranken reichlich. Schließlich – den frommen Zweck in allen Ehren – jeden Tag gab es keine solche Gelegenheit der Zusammenkunft. Der eine hatte eine Tochter oder einen Sohn zu verheiraten, ein Roß war ihm feil oder er wollte ein Grundstück verkaufen. Hartnäckig wurde über die Tische hinweg gelobt und gefeilscht. Immer lustiger und lauter wurden die Gäste während dieser Handelschaften, denn das Bier war wieder gut, und an Fleisch und Würsten gab es keinen Mangel mehr.
In den meisten Pfarreien fanden sogenannte »Missionen« statt, wobei fremde, wortgewaltige Mönche acht Tage lang durch ihre eindringlichen Predigten die Frommen zu neuem Glaubenseifer anspornten. Die Gläubigen festigten ihre alten Gelübde oder legten neue ab, machten Wallfahrten und veranstalteten Pilgerzüge nach Rom.
Unsere Mutter schien viel geweckter zu sein. Die Arbeit ging ihr schneller als sonst von der Hand. Jeden Tag suchte sie mit der kleinen Annamarie zwei-oder dreimal die Pfarrkirche auf und blieb stundenlang. Es regnete in Strömen. Nur
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