Das Leben meiner Mutter (German Edition)
gesehen, und nun freute sie sich, weil ich sie mitgebracht hatte.
»Soso, seids mitm Zehn-Uhr-Zug kommen«, fing sie zu plaudern an, als ob gar nichts sei. Sie mußte steif liegen und musterte mit schrägem Blick die schönen Orangen und den Rotwein, indem sie sagte: »Die Orangen geb’ ich der Annamarie, die ißt sie so gern … Und den Wein, den spar’ ich mir für Weihnachten … Da mach’ ich einen Punsch.« Sie rechnete also schon wieder in die nächste Zeit hinein wie immer. Es trat mehr Farbe auf ihre eingefallenen Wangen, und obgleich ihre frisch vernähten Operationsschnitte bei der geringsten Bewegung schmerzten, obgleich sie möglichst still liegen sollte, lachte sie glucksend und flüsterte verschmitzt: »Ha, der Doktor meint, ich soll bloß von Zeit zu Zeit ein Maul voll Wasser nehmen, damit mein Gaumen nicht so trocken wird, aber der kann mich ja gern haben. Ich hab’ ihn schon ausg’schmiert! … Die Kandler-Marie hat mir drei Flaschen Bier hereingeschmuggelt, hahaha. Es darf’s aber keiner wissen! Die hab’ ich unterm Kopfkissen versteckt … Eine hab’ ich schon ausgetrunken.« So belustigend fand sie diese schlaue Umgehung der ärztlichen Vorschrift, daß ihr vor Vergnügen die Tränen in die Augen traten. Die besorgten Einwendungen meiner Frau waren vergeblich.
»Haha, den hab’ ich schön hinters Licht geführt … Ich kann doch nicht verbrennen vor lauter Durst! Was glaubt denn der!« redete die Mutter. Ihre Zuversicht, daß ihr das nichts schade, war entwaffnend.
»Mutter, ich glaub’, du überlebst uns alle!« lächelte ich ebenfalls aufgemuntert. Ihr Gesicht bekam einen undefinierbar zufriedenen Ausdruck. –
Nach ungefähr einem Monat war sie wieder gesund und stiftete insgeheim für die Aufkirchner Pfarrkirche eine große, geweihte Kerze. Sie schien rüstiger denn je.
»Ganz leicht ist mir inwendig, seitdem der ganze giftige Dreck ’raus ist. Er versteht doch was, der Doktor Magg … Seinen Vater selig haben wir noch in Aufhausen gehabt«, erzählte sie wie neubelebt. »Wenn ich meine offenen Füß nicht hätt’, tät’ ich meinen, ich wär’ noch eine Junge …«
Zum erstenmal kamen meine Frau und ich auf eine Woche ins Kramerhaus zu Besuch.
Es war hoher Sommer. Maurus und Theres hatten viel zu tun, denn es waren nun wieder wie ehedem jeden Sommer viel fremde Herrschaften da.
Stillsitzen mochte unsere Mutter nicht. Sie wollte dem Maurus in der Konditorei helfen, doch der hielt die Kinder dazu an. Sie suchte immer wieder eine neue Beschäftigung, aber wir verwehrten es ihr. Öfter brachten wir sie nach langem Zureden dazu, mit uns spazierenzugehen. Scheu und wie beschämt schaute sie dabei auf die arbeitenden Leute in den Feldern, denn ihr kam es sündhaft vor, an Werktagen müßig zu bleiben. Deswegen wählte sie auch stets abgelegene Waldwege. Meine Frau bot ihr den stützenden Arm und hielt behutsam mit ihr Schritt. Daß jemand um sie so besorgt war, rührte sie. Einmal sah sie meine Frau von der Seite an und sagte verhalten zärtlich: »Du bist ein gutes Ding, Mirjam! Da kann der Oskar froh sein.«
Wir kamen aus dem schattenden Buchenwald, der sich vom Leoniger Seeufer heraufzog, und die sanft gewellten Felder lagen da. Rechts auf einer runden Höhe ragte das breit angelegte, von einem mächtigen viereckigen Obelisk gekrönte Bismarckdenkmal in die Höhe. Protzenhaft und so, als stieße es gleichsam mit den derben, eckigen Ellenbogen seines Quadersockels die kunstvoll angelegten Zedern rundherum beiseite, so stand es da. Gewaltsam, drohend und unschön wirkte es in der friedvollen Landschaft.
Tief aufatmend blieb die Mutter auf der leicht abschüssigen, blumigen Wiesenfläche stehen und sah über das weite, ruhige belebte Land bis ins blaue Gebirge hinein.
»Hm, wie schön das ist, hmhm«, brümmelte sie zufrieden. »Ganz wohl tut einem das! … Hmhm, wie schön!« Vielleicht war’s das erste Mal, daß sie die innige Landschaft ihrer engen Heimat so anschaute. Das in den Bäumen versteckte Dorf Allmannshausen im Hintergrund und das Dörflein Assenhausen linker Hand vor uns – jedes Haus, jeden Menschen kannte sie und erzählte im langsamen Vorübergehen irgendeine Geschichte darüber. Jeder Baum und Strauch, der stille Himmel und der See drunten, alles lebte beziehungsvoll in ihr.
Jetzt, da sie Greisin geworden war, zwang sie das zunehmende Alter zu einer beschaulichen Gemächlichkeit. Oft an den Sonntagnachmittagen hockte sie mit Verwandten oder
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