Das Leben meiner Mutter (German Edition)
verloren!«
Um sie zu necken, sagte ich einmal zu ihr: »Aber, Mutter, das ist doch eine Todsünde … Du bist doch sonst nicht so?« Nein, sie war sonst nicht so, im Gegenteil, sie war grundehrlich, aber: »Ah! Ah!« verteidigte sie sich unangefochten, »wenn’s schon eine Sünd’ ist – was soll ich altes Weib denn in einem fort beichten! … Die Schatzlin hat Hennen genug!«
Lachend spöttelte ich weiter: »Jetzt begreif’ ich’s erst … Du stibitzt so Hennen bloß, damit du wieder was zum Beichten hast …«
»Geh! … Du! … Spott nur!« wehrte sie sich heiter und gutmütig.
USA besucht uns
Wie in einer kleinen, beengenden Nußschale spielte sich das Leben im Kramerhaus ab. Der Maurus hatte endlich die Konzession für einen Kaffeehausbetrieb erhalten und baute neben der Backstube einen Raum für die Gäste aus. Die Zeit war gut. Er spürte neuen Auftrieb, und der Erfolg hatte ihn unternehmungslustig gemacht. Doch seine Interessen und die der Theres stießen sich beständig. Der Maurus war für Zusammenwirken, sie aber wollte für sich sein, war mißtrauisch und glaubte sich übervorteilt. Die Gegensätze platzten aufeinander. Heftige Streitigkeiten brachen immer wieder aus. Die Nußschale drohte manchmal zu zerspringen: Bruder und Schwester trennten schließlich den Haushalt. Mutter, die durch all diese giftigen Reibereien sehr mitgenommen worden war, zog mit Theres in den ersten Stock und wirtschaftete für sie und Annamarie. Maurus nahm sich eine Helferin, und der Lenz, vom gefallenen Maxl der jüngste Sohn, arbeitete als Lehrling bei ihm. Manchmal im hohen Sommer, wenn viel zu tun war, kam Mutter herunter und wollte mithelfen.
»Nein, wir brauchen dich nicht«, sagte der Maurus. Er war verbrummt und gereizt, und er kannte die kleinliche Theres zu gut. Auf keinen Fall wollte er sich von ihr nachsagen lassen, daß er die Mutter ausnütze.
»Nein-nein, Mutter«, wiederholte er, da sie noch immer zögernd dastand. Er wollte ihr nicht weh tun, aber ihr tat es weh. Sie wandte sich um und ging wieder nach oben.
Die Nußschale war erfüllt von gefährlichen Spannungen. Die drückten am meisten auf die Mutter.
Dabei schienen gerade jetzt draußen in der weiten, großen Welt die Spannungen weit geringer zu sein. In Paris unterzeichneten fast alle Regierungen der Welt den Kriegsächtungspakt, den der Amerikaner Kellogg vorgeschlagen hatte. Es gab Abrüstungs- und Weltwirtschaftskonferenzen, welche die Mißhelligkeiten und sonstigen Schwierigkeiten zwischen den Nationen ausgleichen sollten. Der Wille zum Frieden und zur einträchtigen internationalen Zusammenarbeit schien sich mehr und mehr auszubreiten und zu festigen. Der Sinn für Technik und Höchstleistung war voll erwacht. Er strahlte aus bis ins kleinste Dorf. Ohne allzu große Übertriebenheit, fast selbstverständlich und gelassen nahmen die Leute die Neuerungen hin. In jedem Bauernhaus stand jetzt ein guter Radio-Apparat, durch den man die Wetterberichte und Marktpreise für landwirtschaftliche Produkte erfuhr, und nach Feierabend gab es gute Unterhaltungsmusik oder sonst etwas Interessantes zu hören. Viele Bauernsöhne hatten teure Motorräder und machten sonntags große Touren ins Gebirge oder sonst ins weite Land hinein. Autobusse verbanden die Dörfer enger miteinander. Ja, mehr noch – alle Länder standen in friedlichem Wettstreit. Vor einem Jahr hatte der junge Lindbergh den Ozean von Westen nach Osten überflogen. Ihm folgten seine Landsleute Chamberlin und Levine, und nun war es auch den Deutschen Köhl, Hünefeld und Fitzmaurice gelungen, in entgegengesetzter Richtung nach Amerika zu fliegen. Im kleinsten Dorf sprach jeder Mensch von diesen kühnen Männern. Der italienische General Nobile wollte mit dem Luftschiff ›Italia‹ den Nordpol erreichen und scheiterte. Der alte Polarheld Amundsen, der mit dem Flugzeug aufstieg, um ihn zu retten, blieb verschollen. Überall betrauerte man ihn. Auf der Zeppelin-Werft in Friedrichshafen am Bodensee wurden Riesenluftschiffe erbaut, die einen regelmäßigen Transozean-Verkehr eröffnen sollten. Die Erdteile waren einander näher gerückt. Entfernungen galten nichts mehr. Friede und Stabilität schienen auf lange gesichert. Sogar die politischen Gegensätze hatten sich allem Anschein nach gemildert. An der Spitze der deutschen Republik stand eine sogenannte »Regierung der großen Koalition«, die mit Ausnahme der Rechts- und Linksradikalen alle Parteien umschloß. Der Sozialdemokrat
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