Das Leben meiner Mutter (German Edition)
und merkte, wie niedergeschlagen sie war. Zwischen Menschen leben, die sich tief mißtrauten und nichts kannten, als einander ihren Zank entgegenzustellen – was war das für ein Leben für sie, die immer nur Frieden wollte.
Und Anna? Wie weggewachsen war sie von alledem! Noch in der Inflationszeit war sie nach Amerika gegangen. Die Veränderungen, die inzwischen in der Heimat vor sich gegangen waren, begriff sie nicht mehr. Sie glaubte noch immer, die deutsche Mark sei nichts wert, und hütete mißtrauisch ihre Dollars, die sie in einem ledernen Beutel auf ihrer nackten Brust trug. Mit Schweiß und Schmerz war dieses Geld verdient. Nun wollte Theres, daß ihr Anna im Geschäft helfe. Sie hatte Schulden gemacht und schlecht gewirtschaftet. Zudem war sie krank. Eines Tages ließ sie alles liegen und stehen, übergab der Anna die nötigsten Auf träge und fuhr irgendwohin ins Gebirge zur Kur. Anna war hilflos, kannte sich nicht aus. Mutter wurde immer vergrämter. Theres kam heim und machte der Anna bittere Vorwürfe. Der Maurus mischte sich ein und verteidigte Anna.
»Nein, da kann ich nicht bleiben, Mutter … Nein, nein!« sagte Anna verstimmt und fuhr nach Berlin. Sie nahm eine Stellung dort, kam nach einigen Monaten wieder zu uns nach München. Überall war ihr, als verstünden sie die Menschen nicht mehr. Enttäuscht fuhr sie wieder nach Amerika.
»Arme, arme Nanndl«, sagte die Mutter. »Geheiratet sollt’ sie haben … So in der Fremd’ draußen und keinen Menschen haben, hmhm, das geht doch nicht! … Ja, die seh’ ich nicht mehr!«
Das Leben zwischen dem jähzornigen Maurus und der unnachgiebigen Theres wurde immer quälender für sie. Darüber konnte sie auch die heranwachsende Annamarie, an der sie mit ihrer ganzen Großmutterliebe hing, nicht hinwegtrösten. Aber – ganz ohne etwas, das sie ablenkte und wenigstens zeitweise über diese Trostlosigkeit hinaushob, konnte sie nicht leben.
Was tat sie? Sie kaufte sich wieder Hühner, nachdem sie die damaligen aufgegeben hatte. Eifrig befaßte sie sich mit ihnen, ließ sie brüten und zog Küken auf. Das war immerhin ein winziges Stück aus früheren, ruhigeren Zeiten.
»Weißt du, wenn ich da in der Früh’ aufsteh’, und es gackert schon so, das bin ich gewohnt«, sagte sie zu mir, »da mein’ ich, ich hab’ noch den Stall voll Vieh …«
Zu Hühnern hatte sie überhaupt ein eigenes Verhältnis. Die ihrigen hütete sie ängstlich, fremde schienen ihr irgendwie störend und gewissermaßen sogar hassenswert. Mit eigentümlich erregtem Gesicht schlich sie in den Garten, wenn eine Nachbarshenne dort gackerte und herumscharrte. Geschwind schaute sie rundherum, und wenn sie niemanden sah, fing sie zu locken an: »Bibibi! … Bibibi!« Ihre sonst so ruhigen Augen funkelten listig auf. Eine seltsame Erregung flirrte in ihrem Gesicht.
»Bibibi … Bibibi!« wiederholte sie arglos, bis das Huhn herangekommen war, und blitzschnell griff sie danach, umspannte mit Daumen und Zeigefinger den zuckenden Hühnerhals – drehte ihn um. Ein kurzes Gurgeln, ein Herumschlagen der Flügel, und rasch verbarg sie die tote Henne unter der breiten Schürze, ging schnell die Stiege hinauf, in ihre Kuchl. Sie atmete fliegend vor Lust und strahlte geradezu. Auf der Stelle begann sie die tote Henne zu rupfen, auszuweiden und zum Braten zurechtzumachen.
»Ja, Großmutter, hast du schon wieder eine Henne stibitzt?« fragte die dazukommende Annamarie mit schulmädchenhafter, frecher Unschuld und freute sich ebenso.
»Pssst! Red nicht!« hastete ihr die Mutter halblaut zu, »daß du es fein ja keinem sagst, gell! … Da gibt’s heut mittag was Fein’s!« Erregt lächelte sie: »Haha, ein Griff, und sie hat mir gehört!«
Gegen Mittag, wenn die Nachbarin Futter streute und ihre Hennen zusammenlockte, stieg die Lustigkeit unserer Mutter erst recht. Mit diebischer Schadenfreude fing sie schüttelnd zu lachen an: »Haha, da schreit sie jetzt und lockt und lockt, die Schatzlin! Hahaha, wie sie rumschaut! Das wenn sie wüßt’, daß das dumme Vieh schon in meinem Bratrohr brutzelt, hahaha! … Jaja, da kannst du lang lokken und schrein, Schatzlin! Deine Henne g’hört schon mir!« Ganz außer Atem kam sie vor Fidelität. Niemals kam ihr dabei in den Sinn, daß sie etwas Unrechtes getan hatte. Mit jener listigen bäuerlichen Einfalt spöttelte sie: »Zu was muß denn die saudumme Henne auch gleich hergehn, wenn ich sie lock’! Was hat sie denn in unserm Garten
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