Das Leben meiner Mutter (German Edition)
vergessen hatte.
»Aber, aber – das geht doch nicht, Nanndl!« rief ich betroffen. »Stell dir doch vor, unsere Mutter weint sich ja die Augen aus, wenn du sprichst, daß sie dich nicht versteht!« Sie war reisemüde, lächelte leicht verwirrt, ergriff meinen Arm und zog mich weiter: »O yes, Oskar! Ich versteh’ … Come on, trinken wir! In Amerika ist Prohibition!« Der Morgen überlachte die heiteren Straßen. Zum Wirtshausgehen war das eigentlich keine Zeit, aber wir fanden schließlich ein Restaurant, das ganz leer war und noch von den Gästen der vergangenen Nacht den Geruch in allen Nischen hatte. Anna bestellte Kognak. Zwei kleine Gläschen wurden gebracht.
»Ha! O no! No, no!« rief Anna, »a bottle! … Eine Flasche!« Ich war baff.
»Ja, Menschenskind, willst du denn das jetzt alles aussaufen?« fragte ich, sie aber goß schon ein und schüttete Glas um Glas hinunter. »Well, in Amerika hat man keine Zeit … Da muß man schnell lustig werden!«
Wir tranken und tranken und bekamen einen leichten Rausch, aber auf einmal fiel meiner Schwester wieder der urbayerische Dialekt ein.
Mutter hatte sich so gefreut auf Annas Wiederkommen und saß oft stundenlang mit ihrer Jüngsten beisammen, aber eine Welt trennte sie.
»Mein Gott, Nanndl, so verändert bist du!« sagte Mutter oft zwischenhinein, »hmhm, hmhm.«
Endlich einmal fing Anna halb bitter, halb traurig zu erzählen an: »Ja, weißt du, Mutter, wißt ihr – das versteht ihr nicht. Amerika ist ein hartes Land … Ich hab’ viel durchmachen müssen und war ganz fremd … Wenn man keinen mehr versteht, ihr glaubt das nicht, wie weh das tut … Aber die Amerikaner sind einfache Menschen. Ganz Fremde haben mir mehr geholfen als der Eugen und der Lenz … Die sind ja ganz, ganz anders, Mutter! … Tja, es ist a hard work in Amerika …« Sie hielt inne und sah geradeaus.
»Ich war in Billings und habe jede Nacht vor Heimweh geweint. Kein Mensch war da … Da hab’ ich von irgendwoher eine deutsche Melodie gehört! … Oh, ich war so traurig! … Seitdem liebe ich deutsche Musik über alles! … Oh, Bach, Mozart, Beethoven! … Wenn ich die höre, meine ich immer, ich bin bei euch allen!« redete sie etwas wehmütig-schwärmerisch aus sich heraus. Ihr langes, hageres, durch die Schminke noch blasser erscheinendes Gesicht, das dem Vater ähnelte, bekam einen melancholischen Ausdruck. Sie raffte sich geschwind zusammen und rief lebhaft: »Aber ich liebe Amerika! Ja, ich liebe es sehr! … Bei euch ist alles so klein … Amerika ist ein großes, freies Land! Oh, ich liebe es!«
Unsere Mutter sah die Sprechende unverwandt an. Sie begriff nichts von alledem.
»Daß du so weit weg bist, das tut mir weh«, sagte sie einfach und zärtlich.
Im Kramerhaus war die Eintracht verwichen. Maurus und Theres vertrugen sich nicht mehr. Sie lagen oft im Streit und wollten Anna jeweilig für sich gewinnen. Die aber wollte nach schweren, bitteren Jahren in der Fremde ausrasten und wollte der Mutter gute Tage machen. Eine eigentümliche Unrast trieb sie dazu, fortwährend kleinere und größere Reisen zu machen. Für unsere Mutter war das nicht das Rechte. Sie liebte stillzusitzen, doch Anna drängte sie, mit ihr einige Gebirgsorte zu besuchen, in Hotels zu übernachten, mit der Eisenbahn herumzufahren. Nein, unsere Mutter sagte nichts – aber sie fühlte sich todunglücklich dabei. Bei so einem Frühstück im Hotel saß sie beengt und unbehaglich da, hatte keinen rechten Appetit und murmelte öfter: »Hm, was werden sie machen, die zwei, der Maurus und die Resl, hm … Wann fahren wir denn wieder?«
»Ach, laß sie doch streiten, Mutter! Laß dir’s doch gut gehen!« wollte ihr die Anna zureden. Vergeblich. Wenn sie aber endlich wieder heimkam, rühmte sie alles, was sie gesehen hatte – und sie hatte doch nichts, gar nichts gesehen! Sie war doch beständig mit ihren ganzen Sinnen daheim gewesen, und sonst nirgends.
Anna besuchte uns nun öfter und klagte über die Zwietracht daheim. Wir machten kleine Festlichkeiten und zechten mit Bekannten. Manchmal fuhr die ganze Gesellschaft nach Berg und trank im Obstgarten Kaffee. Theres setzte sich dazu und plagte sich zu einem süßsauren Lächeln, Maurus unterhielt sich über Literatur, aber es kam keine gute Stimmung auf.
Mutter beugte sich zu mir und lispelte mir ins Ohr: »Ich bin froh, wenn ihr da seid, da können sie wenigstens nicht streiten … Ganz arg ist’s wieder.« Ich sah sie an
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