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Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben, natürlich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
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Letztlich fügte sich im Leben alles irgendwie, versicherte er ihr. Aber glauben Sie das wirklich?, fragte sie, und er sagte ja.
    Draußen glitten die rötlichen Häuser von Hartford vorbei, und Bob musste vom Gas gehen und sich konzentrieren. Der Verkehr wurde dichter. Er überholte einen Lastwagen; ein Lastwagen überholte ihn. Und kaum passierte er die Grenze nach Massachusetts, wandten sich seine Gedanken, wie aufs Stichwort, Pam zu. Pam, seiner über alles geliebten Exfrau, deren Intelligenz und Wissbegierde nur von ihrer Überzeugung überboten wurden, dass ihr beides abging. Pam, mit der er vor über dreißig Jahren auf dem Campus der University of Maine ins Gespräch gekommen war. Sie stammte aus Massachusetts, das einzige Kind ältlicher Eltern, die schon, als Bob ihnen bei der Abschlussfeier vorgestellt wurde, gründlich aufgerieben wirkten von ihrer chaotischen Tochter (wobei die Mutter, bettlägrig zwar, immer noch am Leben war, in einem Pflegeheim gar nicht weit von dieser Straße, wo sie weder Pam erkannte noch, bei seinen gelegentlichen Besuchen in der Vergangenheit, Bob). Pam, vollschlank damals noch, temperamentvoll, unsicher, immer zum Lachen aufgelegt, immer Feuer und Flamme für irgendetwas. Wer wusste schon, welche Ängste sie umtrieben? Als sie frisch nach New York gezogen waren, hatte sie sich im West Village einmal zum Pinkeln zwischen zwei parkende Autos gehockt, betrunken und kichernd: Auf die Frauenbewegung!, die Faust in die Luft gereckt. Gleiches Pissrecht für alle! Pam, die fluchen konnte wie ein Fuhrknecht. Seine über alles geliebte Pam.
    Vor ihm tauchte das Schild nach Sturbridge auf, und Bobs Gedanken wanderten zu seiner Großmutter und ihren Geschichten von seinen englischen Vorfahren, die vor zehn Generationen ins Land gekommen waren. Bob in seinem Kinderstuhl: »Erzähl die Geschichte mit den Indianern.« Oh, da wurden Skalpe genommen, und ein kleines Mädchen wurde entführt, bis hinein nach Kanada verschleppten sie sie, und ihr Bruder zog aus und befreite sie, auch wenn er viele Jahre nach ihr suchen musste in seinen zerlumpten Kleidern, aber er brachte sie zurück in die Küstenstadt. Damals, so seine Großmutter, kochten die Frauen ihre Seife aus Asche. Gegen Ohrenschmerzen half Gänseblümchenwurzel. Eines Tages erzählte sie ihm, wie Diebe durch die Stadt getrieben wurden. Wenn ein Mann einen Fisch gestohlen hatte, sagte sie, dann musste er durch die ganze Stadt laufen, den Fisch in der Hand, und laut rufen: »Ich habe diesen Fisch gestohlen, und ich schäme mich!« Und der Ausrufer zog hinter ihm her und schlug seine Trommel dazu.
    Nach dieser Geschichte war es vorbei mit Bobs Interesse an seinen Vorfahren. Durch die Stadt laufen müssen und schreien: »Ich habe diesen Fisch gestohlen, und ich schäme mich«?
    Nein. Finito.
    Und als Nächstes New Hampshire, mit seinem staatlichen Spirituosenladen gleich hinter der Ausfahrt und den niedrig ziehenden Herbstwolken, New Hampshire mit seinem archaischen, Hunderte von Abgeordneten zählenden Parlament und dem Spruch F REI LEBEN ODER STERBEN auf dem Nummernschild. Die Straßen waren voll; am Kreisverkehr ging es ab zu den White Mountains, die mit ihrem Herbstlaub die Wochenendausflügler anlockten. Er legte eine Kaffeepause ein und rief seine Schwester an. »Wo steckst du?«, fragte sie. »Ich werde noch wahnsinnig. Wieso bist du so spät dran – ach, wozu frag ich das.«
    »Oi. Susan. Ich bin bald da.«
    Die Sonne stand nicht mehr im Zenit. Er fuhr weiter, durch Portsmouth hindurch, das von Jahr zu Jahr geschleckter wurde wie so viele Küstenstädte hier; die Stadtverschönerungsprogramme reichten zurück bis in die späten Siebziger, als die ersten Altbauten saniert wurden und die Straßen wieder Kopfsteinpflaster bekamen, dazu Laternenpfosten von anno dazumal und jede Menge Kerzenläden. Aber Bob hatte Portsmouth noch als verschlafene Hafenstadt in Erinnerung, und voll Wehmut dachte er an die holperigen, schmucklosen Straßen und an das inzwischen längst abgerissene Kaufhaus mit seinen großen Fenstern, die nur zwischen Sommer- und Winterdekoration zu wechseln schienen: winkende Schaufensterpuppen, denen die immer gleiche Handtasche am gebrochenen Handgelenk baumelte, eine augenlose Frau neben einem glücklichen augenlosen Mann, zu dessen Füßen sich ein Gartenschlauch ringelte – das war die Zeit, als die Schaufensterpuppen noch lächelten. All das wusste Bob deshalb so gut, weil Pam und er hier Station gemacht hatten,

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