Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)
absolute Unsportlichkeit ihn noch nicht unrettbar isoliert hatte, als seine Nase noch keine höckrige Erwachsenennase gewesen war und seine Augenbrauen noch kein durchgezogener dunkler Strich – als er einfach ein schüchterner, überbraver kleiner Junge zu sein schien. Ein schlechter Esser, das immer.
»Geh duschen«, sagte sie. »Und zieh dir was Ordentliches an.«
»Wie, ordentlich?«, fragte er.
»Ein richtiges Hemd. Und keine Jeans.«
»Keine Jeans?« Es klang nicht bockig, sondern beunruhigt.
»Dann wenigstens Jeans ohne Löcher.«
Susan nahm das Telefon und rief im Polizeirevier an. Polizeichef O’Hare war da. Sie musste dreimal sagen, wer sie war, bevor man sie zu ihm durchstellte. Sie hatte sich ihren Text aufgeschrieben. Ihr Mund war so trocken, dass die Lippen aneinanderklebten, und sie bewegte sie stärker als sonst, um die Worte herauszubringen.
»… schon unterwegs«, schloss sie und hob den Blick von dem Blatt, von dem sie abgelesen hatte. »Ich warte nur noch auf Bob.« Sie sah Gerrys große Hand vor sich, die den Hörer hielt, sein Pokerface. Er hatte stark zugenommen über die Jahre. Manchmal, nicht oft, kam er in das Brillengeschäft im Einkaufszentrum auf der anderen Flussseite, in dem Susan arbeitete, und wartete, während die Brille seiner Frau repariert wurde. Dann nickte er Susan zu. Er war weder freundlich noch unfreundlich; etwas anderes hätte sie auch nicht erwartet.
»Hmm. Susan. Wir dürfen hier nichts falsch machen, Susan.« Sein Ton war müde, routiniert. »Sobald wir wissen, wer der Täter ist, wäre es unkorrekt von mir, ihn nicht abholen zu lassen. Da hängt eine Menge Publicity dran.«
»Gerry«, sagte sie. »Lieber Gott. Bitte schick keinen Streifenwagen. Tu mir das nicht an.«
»Ich sag dir, was ich denke. Ich denke, dieses Telefonat hat nie stattgefunden. Alte Freunde. Sind wir doch, oder? Ich denke mir, dass ich dich ziemlich bald sehe. Ehe der Tag um ist. Also dann.«
»Danke«, sagte sie.
Bob fuhr den Wagen seines Bruders ohne Hast, getragen vom Fluss seiner Bewegung. Durchs Fenster sah man Schilder, die Outlet-Zentren oder Seen anzeigten, aber hauptsächlich sah man die Bäume Connecticuts, die herankamen, vorüberwischten, verschwanden. Der Verkehr strömte zügig dahin, mit einer Einträchtigkeit, als wären alle Autofahrer Teil ein und derselben mobilen Daseinsform. Vor Bobs innerem Auge erschien das Bild Adrianas in ihrem kastanienbraunen Trainingsanzug. Ich habe Angst, hatte sie zu ihm gesagt, draußen vor dem Hauseingang, wo der Wind ihr strähniges blondes Haar zauste. Ihre Stimme war kehlig, das hatte er nicht gewusst – sie hatten vorher nie miteinander geredet. Ohne ihr Make-up sah sie viel jünger aus; ihre Wangenknochen waren blass, ihre grünen Augen, rotgerändert, blickten groß und ratlos. Aber die Fingernägel waren abgekaut, und das schnitt ihm ins Herz. Er dachte: Sie könnte fast meine Tochter sein. Seit vielen Jahren nun schon begleiteten Bob die Schatten seiner nie geborenen Kinder durchs Leben. Früher mochte das etwa ein Kind auf einem Spielplatz sein, blond wie Bob selbst in dem Alter, das zögerlich auf einem Bein hüpfte. Später dann ein Teenager (Junge oder Mädchen, es konnte bei beiden passieren), der auf der Straße mit ein paar Freunden herumalberte, oder dieser Tage ein Jurastudent, der bei ihm im Büro ein Praktikum machte – alle konnten sie plötzlich etwas in ihrem Ausdruck haben, was Bob auf den Gedanken brachte: Das hätte mein Kind sein können.
Er fragte sie, ob ihre Familie in der Nähe lebte.
Eltern in Bensonhurst, die Mietshäuser verwalteten. Dies kopfschüttelnd, sie standen sich nicht nahe. Aber sie hatte eine Stelle in Manhattan, Sachbearbeiterin in einer Kanzlei. Nur, wie sollte sie arbeiten, wo sie sich so … Sie machte eine kreiselnde Gebärde auf Ohrhöhe, um anzudeuten, wie sie sich fühlte. Ihre Lippen waren sehr blass. Arbeiten hilft, sagte er ihr. Sie werden staunen.
Ich werde mich nicht immer so fühlen?, fragte sie.
O nein. Nein. (Aber er wusste: Das Ende einer Ehe war eine höllische Zeit.) Sie packen das, sagte er ihr. Er sagte es ihr viele Male, während das zitternde Hündchen am Boden herumschnupperte; sie wollte es immer wieder von ihm hören. Gut möglich, dass sie ihre Stelle verlieren würde, sagte sie; eine Kollegin kam aus dem Mutterschaftsurlaub zurück, und es war eine sehr kleine Kanzlei. Er nannte ihr Jims Firma, eine Großkanzlei, viel Wechsel, da fand sich bestimmt etwas.
Weitere Kostenlose Bücher