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Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben, natürlich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
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Wasserfläche gerichtet. »Das ist nett von dir, Helen«, sagte sie schließlich, »aber nach meiner Erfahrung mögen es die wenigsten, wenn man sagt, was einem in den Sinn kommt.«
    Helen wartete.
    »Therapeuten zum Beispiel.« Dorothy sah immer noch geradeaus. »Ich habe der Familientherapeutin gesagt, dass mir Jessies Freund leidtut, und das tut er wirklich – sie hat ihn völlig unter ihrer Fuchtel – , und die Frau hat mich angeschaut, als wäre ich die schlimmste Rabenmutter aller Zeiten. Ich dachte nur, meine Güte, wenn man nicht mal mehr beim Psychiater ehrlich sein darf, wo denn dann? In New York Kinder zu erziehen ist Hochleistungssport. Ein Kampf bis aufs Messer.« Dorothy trank durstig aus ihrem Wasserbecher und sagte: »Welches Buch haben sie euch diesen Monat aufgebrummt?«
    Helen strich mit der Hand über den Einband. »Es handelt von einer Frau, die als Putzfrau gearbeitet hat, und jetzt hat sie ein Buch darüber geschrieben, was sie beim Herumschnüffeln alles gefunden hat.« Helen errötete in der Hitze. Die Verfasserin hatte Handschellen entdeckt, Peitschen, Nippelklemmen – und noch andere Dinge, von denen Helen nicht einmal gewusst hatte, dass es sie gab.
    »Lies diesen Quatsch nicht«, sagte Dorothy. »Genau das meine ich – Frauen, die anderen Frauen dämliche Bücher empfehlen, aber vom Rest der Welt nichts mitkriegen. Da, lies lieber den Artikel hier. Passend zur Krise deiner Schwägerin, von der Jim gestern berichtet hat.« Sie machte den Arm lang und reichte Helen einen Teil der Zeitung herüber, die auf dem Plastiktischchen neben ihr lag. »Wobei Jim«, setzte sie hinzu, »natürlich jede Krise als sein Privateigentum sieht.«
    Helen wühlte in ihrer Strohtasche. »Na ja, das musst du verstehen.« Sie sah von ihrer Tasche auf und hielt einen Finger hoch: »Jim verlässt Maine.« Sie hielt zwei Finger hoch: »Bob verlässt Maine.« Drei Finger: »Susans Mann verlässt Maine und Susan.« Helen wandte sich wieder ihrer Tasche zu und fand ihren Lippenbalsam. »Deshalb fühlt Jim sich verantwortlich. Jim hat ein sehr ausgeprägtes Verantwortungsbewusstsein.« Helen tupfte sich die Lippen.
    »Oder Schuldbewusstsein.«
    Helen dachte darüber nach. »Nein«, sagte sie. »Verantwortungsbewusstsein.«
    Dorothy blätterte eine Seite ihrer Zeitschrift um und antwortete nicht. Also fühlte Helen, die gern geredet hätte – die Redelust sprudelte förmlich in ihr hoch – , sich gezwungen, nach dem Artikel zu greifen, den Dorothy ihr zu lesen aufgegeben hatte. Die Sonne gewann an Kraft, Schweiß bildete sich auf ihrer Oberlippe, egal, wie oft sie mit dem Finger darüberfuhr. »Du liebe Güte, Dorothy«, sagte sie schließlich, denn der Artikel war wirklich verstörend. Aber sie hatte Angst, wenn sie ihn weglegte, würde sie vor Dorothy als eine (dumme) oberflächliche Frau dastehen, die vom Rest der Welt nichts mitbekommen wollte. Sie las weiter.
    Der Artikel handelte von Flüchtlingslagern in Kenia. Wer saß in diesen Lagern? Somali. Und wer wusste nichts davon? Helen. Gut, jetzt wusste sie es. Jetzt wusste sie, dass viele dieser neuen Einwohner von Shirley Falls, Maine, zuvor jahrelang unter den entsetzlichsten Bedingungen gelebt hatten, unfassbaren Bedingungen geradezu. Mit verengten Augen las Helen von Frauen, die beim Holzsammeln von Banditen vergewaltigt wurden, manche der Frauen hatten etliche Vergewaltigungen hinter sich. Viele ihrer Kinder verhungerten in ihren Armen. Die Kinder, die überlebten, konnten nicht zur Schule gehen. Es gab keine Schulen. Die Männer saßen herum und kauten Blätter – Kath – , die sie in einen Dauerrausch versetzten, und ihre Frauen, von denen sie bis zu vier Stück haben konnten, versuchten derweil, mit den spärlichen Zuteilungen von Reis und Bratöl, die die Behörden alle sechs Wochen ausgaben, die Familien am Leben zu halten. Das Ganze natürlich bebildert. Farbfotos von großen, abgezehrten Afrikanerinnen, die Holz und riesige Plastikwasserkrüge auf dem Kopf balancierten. Hütten aus Lehm und zerschlissenem Zeltstoff. Ein kranker kleiner Junge mit Fliegen im Gesicht. »Wie furchtbar«, sagte sie. Dorothy nickte und las weiter in ihrer Zeitschrift.
    Und es war furchtbar, und Helen wusste, dass sie sich entsprechend furchtbar fühlen sollte. Aber sie verstand nicht, warum diese Menschen, die tagelange Fußmärsche auf sich nahmen, um der Gewalt in ihrem Land zu entfliehen, nach Kenia kamen und dort so grauenhafte Dinge erleben mussten. Warum wurde so

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