Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)
etwas nicht verhindert? Das fragte sich Helen schon. Aber hauptsächlich hatte sie keine Lust, so etwas zu lesen, und das gab ihr das Gefühl, ein schlechter Mensch zu sein, und hier war sie an diesem wunderschönen (teuren) Urlaubsort, und sie hatte keine Lust, sich als schlechter Mensch zu fühlen.
Fatuma muss drei Stunden laufen, um genug Brennholz zu sammeln. Sie gehen immer in der Gruppe, aber sie wissen, dass sie nicht sicher sind. Sicherheit ist ein Fremdwort hier.
Und dann befiel Helen, während die Hitze auf sie herabglühte und die Sonne ihr vom Hellblau des Pools entgegenstach, jäh und unerwartet eine große Gleichgültigkeit. Der Verlust – denn es war ein Verlust, die Wärme und die Bougainvilleen nicht zu genießen und nur noch auf Jims Rückkehr vom Golf zu warten – ging so tief, dass das Gefühl einen Moment lang an echte Qual grenzte, bevor es wieder zurückschwang zu Gleichgültigkeit. Aber der Schaden war angerichtet (Helen verlagerte ihr Gewicht, schlug die Knöchel übereinander), denn in diesem Moment der Beinahe-Qual schienen ihre eigenen Kinder plötzlich für sie verloren; sie hatte eine Vision ihrer selbst in einem Altersheim, wo ihre erwachsenen Kinder in zackiger Fürsorglichkeit zu Besuch kamen, »es geht alles so schnell«, sagte sie zu ihnen, das Leben, meinte sie natürlich, und sie sah den anteilnehmenden Blick ihrer Kinder, während sie brav bei ihr ausharrten, bis sie wieder gehen durften, zurück zu ihrem eigenen, so viel dringlicheren Leben. Sie werden nicht bei mir sein wollen, dachte Helen, derweil dieser völlig real wirkende Moment in ihrem Kopf nachhallte. Nie zuvor hatte sie so etwas gedacht.
Sie sah empor zu den leise schwankenden Palmenzweigen.
Reiner Blödsinn, das mit dem leeren Nest, hatten die Frauen im Lesezirkel sie getröstet, als Helens Sohn – ihr letztes Kind – sein Studium in Arizona begonnen hatte. Ein leeres Nest bedeutet Freiheit, hatten sie ihr gesagt. Das leere Nest macht eine Frau stärker. Die Männer werden viel schlechter damit fertig. Männer über fünfzig tun sich schwer.
Helen schloss die Augen vor der Sonne und sah ihre Kinder in dem Planschbecken in ihrem Garten in West Hartford herumturnen, die nassen kleinen Gliedmaßen schimmernd hell; sah sie als Teenager mit ihren Freunden den Gehsteig in Park Slope entlangschlendern; spürte sie neben sich auf der Couch, wenn sie abends alle zusammen ihre Lieblingsserien sahen.
Sie öffnete die Augen. »Dorothy.«
Dorothy drehte ihr das Gesicht zu. Schwarze Brillengläser blickten sie an.
»Mir fehlen meine Kinder so«, sagte Helen.
Dorothy kehrte zu ihrer Lektüre zurück. »Das kann ich von mir leider nicht behaupten.«
4
Der Hund wartete schon an der Tür und wedelte trübselig mit dem Schwanz, eine Schäferhündin mit einem weißen Fleck am Kinn. »Na, Wauwau?« Bob kraulte ihr den Kopf und trat an ihr vorbei ins Haus. Das Haus war sehr kalt. Zach, der auf der Heimfahrt vom Gefängnis kein Wort gesagt hatte, ging sofort nach oben. »Zach«, rief Bob. »Komm, red ein bisschen mit deinem Onkel.«
»Lass ihn«, rief Susan zurück und folgte ihrem Sohn die Treppe hinauf. Als sie nach ein paar Minuten wieder herunterkam, trug sie einen Pullover mit Rentieren auf der Brust. »Er will nichts essen. Sie haben ihn in eine Zelle gesperrt, und er ist halb tot vor Angst.«
Bob sagte: »Lass mich mit ihm reden.« Und leiser: »Ich dachte, ich soll mit ihm reden.«
»Später. Lass ihn einfach. Er will jetzt nicht reden. Es war alles ein bisschen viel.« Susan öffnete die hintere Tür, und der Hund trottete mit schuldbewusstem Blick in die Küche. Susan schüttete Trockenfutter in einen Blechnapf, dann ging sie ins Wohnzimmer und setzte sich auf die Couch. Bob folgte ihr. Susan zog einen Beutel mit Strickzeug hervor.
Da saßen sie.
Bob hatte keine Ahnung, was er jetzt tun sollte. Jim hätte es gewusst. Jim hatte Kinder, Bob nicht. Jim übernahm die Regie, Bob nicht. Er saß im Mantel da und sah sich um. An den Fußleisten klebten Hundehaare.
»Hast du was zu trinken da, Susan?«
»Moxie.«
»Sonst nichts?«
»Sonst nichts.«
Der übliche Krieg also, wie immer schon. Er war ein Gefangener in seinem Mantel, durchgefroren und ohne einen Tropfen zum Trost. Sie wusste es, und sie ließ ihn leiden. Susan trank nie, wie ihre Mutter. Sie sah ihn vermutlich als Alkoholiker, und Bob sah sich beinah als Alkoholiker, aber eben nicht ganz, was aus seiner Sicht ein gewaltiger Unterschied war.
Ob er
Weitere Kostenlose Bücher