Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)
Kundgebung abzusagen. Sie haben nicht auf ihn gehört, die Polizei ist ganz wild auf die Kundgebung.«
Abdikarim stellte das Heizgerät aus, schloss das Café, verriegelte die Tür und ging schnellen Schrittes durch die Straßen zu seiner Wohnung. Es war niemand zu Hause. Die Kinder waren in der Schule, Haweeya bei der Arbeit für einen sozialen Dienst, Omad dolmetschte im Krankenhaus. Abdikarim blieb den ganzen Vormittag in seinem Zimmer, versäumte die Gebete in der Moschee; die Jalousien ließ er wie immer heruntergezogen. Er lag auf dem Bett, es war dunkel in ihm und dunkel im Zimmer.
Wenn Susan morgens zur Arbeit fuhr, trug sie jetzt auch bei bedecktem Himmel die Sonnenbrille. Kurz nachdem Zachs Foto in der Zeitung gewesen war, hatte sie an der roten Ampel vor der Überführung zu ihrem Einkaufszentrum gestanden, als eine Frau, die sie seit Jahren flüchtig kannte, in der Spur neben ihr hielt und sich am Autoradio zu schaffen machte – um sie nicht sehen und grüßen zu müssen, da war Susan sicher – , bis die Ampel auf Grün sprang. Susan hatte die körperliche Empfindung von Wasser, das durch sie hindurchfloss. Ein bisschen war es wie das Gefühl damals, als Steve nach Hause gekommen war und ihr gesagt hatte, dass er sie verlassen würde.
Als sie nun vor der Kreuzung wartete, den Blick durch die Sonnenbrille starr geradeaus gerichtet, und an ihren Traum vom frühen Morgen dachte, in dem sie in Charlie Tibbetts’ Garten kampiert hatte, kam Susan plötzlich die Erinnerung an die Wochen nach Zachs Geburt, als sie – nur ganz kurz – heimlich in ihren Gynäkologen verliebt gewesen war. Der Arzt lebte mit vier Kindern und einer Frau, die nicht arbeitete, in einem großen Haus im Ortsteil Oyster Point. Sie stammten nicht aus Maine, das wusste Susan noch, und wenn sie sich beim Weihnachtsgottesdienst nacheinander in der Kirchenbank aufreihten, waren sie ihr immer wie eine Schar exotischer Vögel vorgekommen, fremd und verlockend. Mit Zachary in seinem festgeschnallten Tragekörbchen war Susan im Schritttempo am Haus der Familie vorbeigefahren, so tief war ihre Sehnsucht nach dem Mann, der ihr Baby auf die Welt geholt hatte.
Susan empfand keine Scham bei der Erinnerung. Es schien so lange her – es war lange her, der Doktor musste inzwischen sehr alt sein – , fast so, als beträfe es gar nicht sie. Eine junge Susan würde jetzt vielleicht am Haus von Charlie Tibbetts vorbeifahren, aber die Energie brachte sie nicht mehr auf. Das Leben hatte seinen sirupsüßen Sog verloren. Dafür hatte sie letzte Nacht im Traum ein Zelt auf Charlie Tibbetts’ Rasen aufgeschlagen, und dieser Wunsch, ihm nah zu sein, erschien ihr logisch. Er kämpfte für ihren Sohn, also kämpfte er für sie. Für Susan war das ein ganz neues Gefühl, und es vergrößerte ihren Respekt vor Jim. Wally Packer, dachte Susan, musste Jim regelrecht vergöttert haben. Ob die beiden nach all den Jahren wohl noch in Verbindung waren?
»Nein«, sagte Bob, als Susan ihn aus der Arbeit anrief. Es waren keine Kunden im Laden.
»Aber meinst du nicht, dass Jim ihn vermisst?«
»Kann ich mir nicht vorstellen«, sagte Bob. In Susan breiteten sich kleine Wellen der Schmach aus. Sie mochte nicht denken, dass sie und Zach ein Job wie jeder andere waren.
»Jim hat kein einziges Mal angerufen«, sagte sie.
»Ach, Susie, der ist mit Golfspielen beschäftigt. Du solltest ihn sehen bei diesen Urlauben. Pam und ich sind mal mit den beiden nach Aruba gefahren. Großer Gott. Die arme Helen sitzt da und tankt Melanome, während Jim mit Spiegelbrille rumstolziert und am Pool steht wie Mr. Cool höchstpersönlich. Er hat zu tun, das will ich damit sagen. Aber keine Sorge, Charlie Tibbetts ist echt gut. Ich hab gestern mit ihm gesprochen. Er beantragt eine Nachrichtensperre und Änderung der Kautionsauflagen … «
»Ich weiß. Er hat es mir gesagt.« Trotzdem spürte sie einen ganz sinnlosen Stich der Eifersucht. »Bevor du ans Berufungsgericht gegangen bist, Bobby, als du noch als Verteidiger gearbeitet hast, hast du deine Mandanten da gemocht?«
»Gemocht? Sicher, ein paar. Es waren eine Menge Drecksäcke dabei. Und schuldig sind sie sowieso alle, aber … «
»Wie meinst du das, alle sind schuldig?«
»Na ja, jeder hat doch irgendwas auf dem Kerbholz, Susie, wenn er erst mal an diesem Punkt angelangt ist. Oft ist es auch nicht der erste Tatvorwurf, und dann versucht man eben einen Nachlass zu erwirken, verstehst du?«
»Hast du mal einen Vergewaltiger
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