Das Leben und das Schreiben
hielt ein kurzes Nickerchen und machte mich dann auf meinen gewohnten Spaziergang. Am Abend wollten wir mit der ganzen Familie im nahe gelegenen North Conway in New Hampshire WEHRLOS – DIE TOCHTER DES GENERALS (Originaltitel: THE GENERAL’S DAUGHTER) sehen, und ich dachte, ich hätte noch genug Zeit für meinen Gang, bevor wir gemeinsam aufbrechen wollten.
Ungefähr gegen vier Uhr nachmittags muss ich mich auf den Weg gemacht haben, soweit ich mich erinnere. Kurz bevor ich die Hauptstraße erreichte (im Westen von Maine wird jede Straße so genannt, die einen weißen Streifen in der Mitte hat), stellte ich mich hinter einen Baum und urinierte. Es sollte zwei Monate dauern, bis ich wieder im Stehen pinkeln konnte.
Auf der Hauptstraße wandte ich mich gen Norden und lief dem Verkehr entgegen über den unbefestigten Fahrbahnrand. Ein Auto fuhr an mir vorbei, ebenfalls Richtung Norden. Ungefähr eine dreiviertel Meile später kam der Frau in dem Auto ein hellblauer Dodge-Van entgegen. Er schlingerte von einer Fahrbahnseite zur anderen, der Fahrer schien die Kontrolle verloren zu haben. Die Frau im Auto wandte sich an ihren Beifahrer, als der Van an ihnen vorbei war, und sagte: »Das war eben Stephen King, der die Straße entlangging. Hoffentlich fährt der Typ im Van ihn nicht um.«
Eigentlich kann man die Meile der Route 5, die Teil meines Spaziergangs ist, gut überblicken, aber es gibt einen Abschnitt, einen kurzen steilen Anstieg, wo ein Fußgänger in nördlicher Richtung nur sehr schlecht sehen kann, was ihm entgegenkommt. Diesen Hügel hatte ich zu drei Vierteln erklommen, als Bryan Smith, der Besitzer und Fahrer des Dodge, über die Kuppe kam. Er fuhr nicht auf der Straße, sondern über den Fahrbahnrand. Auf meiner Seite. Mir blieb der Bruchteil einer Sekunde, um das zu registrieren. Es reichte gerade für den Gedanken: Mein Gott, ich werde von einem Schulbus überfahren . Ich habe mich nach links gewandt, an das, was dann geschah, fehlt mir die Erinnerung. Das Nächste, was ich weiß, ist, dass ich auf dem Boden liege und den hinteren Teil des Vans sehe, der seitlich geneigt am Straßenrand steht. Diese Erinnerung ist mehr wie ein Foto, so klar und deutlich sehe ich es vor mir. Die Rücklichter des Vans sind verstaubt. Kennzeichen und Heckfenster sind schmutzig. Ich registriere das alles, ohne zu verstehen, dass ich einen Unfall gehabt habe, ohne überhaupt irgendetwas zu verstehen. Es ist einfach nur ein Foto. Ich kann nicht denken, mein Kopf ist leer gefegt.
Hier kommt wieder eine Lücke in meiner Erinnerung, dann wische ich mir ganz vorsichtig mit der linken Hand Blut aus den Augen. Als ich einigermaßen sehen kann, blicke ich mich um und entdecke einen Mann, der auf einem Stein sitzt. Er hat einen Stock auf dem Schoß. Das ist Bryan Smith, zweiundvierzig Jahre, der Mann, der mich mit seinem Van angefahren hat. Smith besitzt ein ansehnliches Verkehrssünderregister, er bringt es auf fast ein Dutzend Vergehen gegen die Straßenverkehrsordnung.
An dem Nachmittag, als sich unsere Schicksale kreuzten, hatte Smith nicht auf die Straße geachtet, weil sein Rottweiler von der Ladefläche des Vans auf den Rücksitz gesprungen war, wo Fleisch in einem Igloo-Kühlgerät lagerte. Der Rottweiler heißt Bullet (zu Hause hat Smith noch einen zweiten Rottweiler namens Pistol). Bullet versuchte, den Deckel des Kühlgeräts mit der Schnauze anzuheben. Smith drehte sich um und versuchte, Bullet fortzuschieben. Er hatte sich immer noch zu Bullet umgedreht und schob seinen Kopf vom Kühlgerät weg, als er über die Kuppe kam. Schaute ihn auch dann noch an und drückte ihn weg, als er mich überfuhr. Später erzählte Smith Freunden, er dachte, er habe ein »kleines Reh« getroffen, bis er meine blutverschmierte Brille neben sich auf dem Vordersitz liegen sah. Sie wurde mir aus dem Gesicht gerissen, als ich Smith auszuweichen versuchte. Der Rahmen war verdreht und verbogen, aber die Gläser waren noch heil. Ich trage sie jetzt gerade beim Schreiben.
2
Smith merkt, dass ich wach bin, und sagt mir, Hilfe sei unterwegs. Er spricht ruhig, fast heiter. So wie er da auf dem Stein sitzt, mit dem Stock auf dem Schoß, wirkt er erleichtert, als wollte er sagen: Haben wir beide nicht gerade wahnsinnig Schwein gehabt? Später erzählt er einem Beamten, er hätte den Campingplatz, wo er wohnt, zusammen mit Bullet verlassen, weil er »ein paar Mars holen wollte, die es oben im Laden gibt«. Als ich das einige Wochen später
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