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Das Leben und das Schreiben

Das Leben und das Schreiben

Titel: Das Leben und das Schreiben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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erfahre, kommt mir der Gedanke, dass ich beinahe von einem Menschen getötet wurde, der einem meiner Bücher entsprungen sein könnte. Das ist schon beinahe amüsant.
    Hilfe ist unterwegs , denke ich. Das ist bestimmt gut, weil ich einen Wahnsinnsunfall gehabt habe. Ich liege im Graben, mein ganzes Gesicht ist voller Blut, und das rechte Bein tut weh. Ich sehe an mir herunter, und mir gefällt gar nicht, was ich entdecke: Meine Hüfte scheint auf mir zu liegen, als hätte mein Unterkörper eine halbe Drehung nach rechts gemacht. Ich sehe wieder den Mann mit dem Stock an und sage: »Bitte sagen Sie mir, dass das bloß ausgerenkt ist.«
    »Nee«, antwortet er. Wie sein Gesicht ist auch seine Stimme heiter, aber nur mäßig interessiert. Er könnte sich das Ganze genauso gut im Fernsehen ansehen und dabei ein Mars futtern. »Ich würd sagen, das ist fünfmal, vielleicht sechsmal gebrochen.«
    »Tut mir leid«, sage ich zu ihm, Gott weiß, warum. Dann bin ich wieder eine Weile weg. Ich habe nicht das Gefühl ohnmächtig geworden zu sein, es ist eher so, als hätte ich an verschiedenen Stellen einen Filmriss.
    Als ich diesmal wieder zu mir komme, steht ein orangeweißer Wagen mit Blaulicht und laufendem Motor am Straßenrand. Ein Notarzt, er heißt Paul Fillebrown, kniet neben mir. Er macht etwas. Schneidet meine Jeans ab, glaube ich, aber vielleicht kam das erst später.
    Ich frage ihn, ob ich eine Zigarette haben könne. Er lacht und sagt, wohl kaum. Ich frage ihn, ob ich sterben müsse. Er sagt, nein, ich müsse nicht sterben, bloß ins Krankenhaus, und zwar schnell. Welches mir lieber wäre, das in Norway-South Paris oder das in Bridgton? Ich antworte ihm, ich wolle ins Northern Cumberland Hospital in Bridgton, weil mein jüngster Sohn – den ich eben zum Flughafen gebracht habe – dort vor zweiundzwanzig Jahren geboren wurde. Ich frage Fillebrown noch mal, ob ich sterben müsse, und wieder verneint er. Dann will er wissen, ob ich die Zehen meines rechten Fußes bewegen kann. Ich wackle mit ihnen, und mir fällt ein Kinderreim ein, den meine Mutter manchmal aufgesagt hat: Das kleine Schweinchen ging zum Markt, das kleine Schweinchen blieb zu Haus. Ich hätte zu Hause bleiben sollen, denke ich; heute spazieren zu gehen war eine wirklich blöde Idee. Dann fällt mir ein, dass man manchmal nur glaubt, man hätte sich bewegt, wenn man gelähmt ist.
    »Haben sich meine Zehen bewegt?«, frage ich Paul Fillebrown und er bejaht, sie hätten ordentlich gewackelt. »Schwören Sie bei Gott?«, beharre ich, und ich glaube, er tut es wirklich. Wieder wird mir langsam schwarz vor Augen. Fillebrown beugt sich nah über mich und fragt mich ganz langsam und laut, ob meine Frau in dem großen Haus am See ist. Ich weiß es nicht. Ich kann mich nicht erinnern, wo irgendjemand aus meiner Familie ist, kann ihm aber die Telefonnummer unseres großen Hauses und des Landhauses auf der anderen Seite des Sees geben, wo meine Tochter manchmal wohnt. Zur Hölle, ich könnte ihm meine Sozialversicherungsnummer nennen, wenn er sie haben wollte. Ich habe alle Zahlen parat. Nur der Rest ist weg.
    Jetzt kommen mehr Leute. Irgendwo krächzt der Polizeifunk. Ich werde auf eine Trage gelegt. Es tut weh, und ich schreie. Dann werde ich in den Notarztwagen geschoben, und der Polizeifunk krächzt lauter. Die Türen schließen, und vorn sagt jemand: »Jetzt aber Gas geben!« Dann fahren wir los.
    Paul Fillebrown setzt sich neben mich. Er hat eine Schere in der Hand und sagt mir, er müsse den Ring vom Mittelfinger meiner rechten Hand schneiden – es ist der Ehering, den mir Tabby 1983 schenkte, zwölf Jahre nach unserer Hochzeit. Ich versuche, Fillebrown zu sagen, dass ich ihn rechts trage, weil der eigentliche Ehering am Mittelfinger der linken Hand sitzt – der kostete mich damals im Doppelpack 15,95 $ bei Day’s Jewelers in Bangor. Will heißen, der Original-Ehering kostete nur acht Dollar, scheint aber trotzdem funktioniert zu haben.
    Es kommt nur ein Gebrabbel heraus, wahrscheinlich versteht Paul Fillebrown nichts davon, aber er nickt weiter und lächelt, während er den zweiten, teureren Ehering von meiner angeschwollenen rechten Hand trennt. Ungefähr zwei Monate später melde ich mich bei ihm, um ihm zu danken; inzwischen weiß ich, dass er mir womöglich das Leben rettete, als er an Ort und Stelle Erste Hilfe leistete und mich dann mit einer Geschwindigkeit von 110 Meilen pro Stunde über ausgebesserte, holprige Nebenstraßen ins Krankenhaus

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