Das Leben und das Schreiben
Jahr, in dem er keine Motorfahrzeuge wie Schneeschieber und Geländefahrzeuge bewegen darf, wurde er entlassen. Man kann davon ausgehen, dass sich Bryan Smith nach Recht und Gesetz wieder ab Herbst oder Winter 2001 auf den Straßen bewegen wird. (Bryan Smith hat diesen Zeitpunkt nicht mehr erlebt. Er starb im Jahr 2000, am Tag von Kings Geburtstag, vermutlich an einer Tablettenüberdosis, Anm. d. Red.).
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David Brown flickte mein Bein in fünf Marathonoperationen wieder zusammen. Am Ende war ich dünn, schwach und fast am Ende meiner Kräfte. Immerhin eröffneten mir die Operationen die reelle Chance, irgendwann wieder gehen zu können. Ein großes Gerüst aus Stahl und Carbonfaser namens externer Fixateur wurde an meinem Bein befestigt. Acht große Stahlstifte, Schanzschrauben genannt, führten vom Fixateur in die Knochen über und unter dem Knie. Fünf dünnere Stahlnadeln ragten strahlenförmig aus dem Knie. Sie sahen aus, als hätte ein Kind Sonnenstrahlen gemalt. Dadurch wurde das Knie ruhiggestellt. Dreimal täglich legten Krankenschwestern die kleineren Nadeln und größeren Schanzschrauben frei und betupften die Löcher mit Wasserstoffperoxid. Ich hab mein Bein noch nie in Kerosin getaucht und dann angesteckt, aber wenn ich das mal tun sollte, fühlt es sich bestimmt so ähnlich an wie die tägliche Schraubenpflege.
Am 19. Juni kam ich ins Krankenhaus. Um den 25. stand ich zum ersten Mal auf, taumelte drei Schritte zum Nachtstuhl, setzte mich im OP-Hemd darauf, senkte den Kopf und bemühte mich vergeblich, die Tränen zurückzuhalten. Man redet sich ein, dass man Glück gehabt hat, schier unglaubliches Glück, und meistens klappt es, denn es stimmt. Manchmal funktioniert es aber auch nicht. Dann heult man.
Ein oder zwei Tage nach diesen anfänglichen Schritten begann die Physiotherapie. Beim ersten Mal schaffte ich mithilfe eines Gehgestells taumelnd zehn Schritte im Gang. Zur gleichen Zeit lernte noch eine Patientin das Gehen, eine schmächtige achtzigjährige Frau namens Alice, die einen Schlaganfall erlitten hatte. Wir spornten uns gegenseitig an, wenn wir noch genügend Luft dazu hatten. Am dritten Tag im Flur sagte ich Alice, man könne ihre Unterhose sehen.
»Und bei dir kann man die Ritze sehen, Sonnyboy«, keuchte sie und ging weiter.
Am 4. Juli konnte ich so lange in einem Rollstuhl sitzen, dass man mich auf die Laderampe hinterm Krankenhaus schob, wo ich mir das Feuerwerk ansah. Es war unglaublich heiß, die Straßen waren voller Menschen, die eine Kleinigkeit aßen, Bier und Limonade tranken und in den Himmel schauten. Tabby stand neben mir, hielt meine Hand, während der Himmel rot und grün erstrahlte, blau und gelb. Tabby wohnte vorübergehend in einem Apartment gegenüber des Krankenhauses und brachte mir jeden Morgen pochierte Eier und Tee. Ich konnte die Nahrung gut gebrauchen, wie es schien. Als ich 1997 von einer Motorradtour durch die australische Wüste zurückkehrte, brachte ich es auf 108 Kilo. An dem Tag, als ich aus dem Central Maine Medical Center entlassen wurde, wog ich 82 Kilo.
Nach drei Wochen Krankenhausaufenthalt kehrte ich am 9. Juli in unser Haus in Bangor zurück. Täglich absolvierte ich mein Rehabilitationsprogramm, das aus Dehnen, Beugen und Gehen an Krücken bestand. Ich bemühte mich, tapfer und zuversichtlich zu sein. Am 4. August musste ich zu einer weiteren Operation ins CMMC. Als mir der Anästhesist eine Kanüle in den Arm schob, sagte er: »Okay, Stephen, jetzt fühlen Sie sich gleich, als hätten Sie ein paar Cocktails getrunken.« Ich wollte ihm sagen, das wäre bestimmt interessant, da ich seit elf Jahren keinen Cocktail mehr getrunken hätte, aber bevor ich etwas herausbekam, war ich schon weg. Als ich wieder erwachte, waren die Schanzschrauben aus dem Bein entfernt. Ich konnte das Knie wieder beugen. Dr. Brown beurteilte meine Heilung als »den Umständen entsprechend« und entließ mich nach Hause, um weiter zu trainieren (wer schon einmal Krankengymnastik gemacht hat, der weiß, dass die Buchstaben P. T. von Physiotherapie für Pain und Torture [Schmerzen und Folter] stehen). Doch mittendrin geschah noch etwas anderes. Am 24. Juli, fünf Wochen nach dem Zusammenstoß mit Bryan Smith’ Dodge, begann ich wieder zu schreiben.
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Tatsächlich habe ich im November oder Dezember 1997 mit Das Leben und das Schreiben begonnen, doch obwohl ich normalerweise nicht länger als drei Monate für die Rohfassung eines Buches brauche, war dieses noch
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