Das Leben Zimmer 18 und du
offene Station, wenn Sie verstehen, was ich meine.“
„Ja“, murmele ich. „Ja, natürlich.“
Doch die Wahrheit ist, dass ich rein gar nichts verstehe.
Warum habe ich ein derart tiefes Gefühl für Bastian entwickelt, mich so tief in die Bemühungen gestürzt, ihm immer wieder zu begegnen, wenn er nun doch von einem Tag auf den anderen aus meinem Leben verschwindet? Und wieso stellt mich das Schicksal schon wieder auf die Probe und reißt mich nun aus meiner vertraut gewordenen Umgebung? Ausgerechnet heute!
„Frau Salchow?“
„Ja.“
„Ist alles in Ordnung?“
„Ja.“
„Der Umzug in die Gruppe B ist ein Schritt weiter in Richtung Entlassung. Das dürfen Sie nicht vergessen.“
„Ich weiß“, antworte ich leise und erschrecke im selben Moment über die Tatsache, dass ich es gar nicht mehr eilig habe, entlassen zu werden. Was soll ich zu Hause? Was soll ich überhaupt irgendwo?
Ich unterdrücke die Tränen. „Und wann geht’s rüber?“
„Im Laufe des Vormittags.“
„Na dann“, ich bemühe mich um ein Lächeln, „werde ich wohl mal meine Sachen zusammenpacken.“
„Glauben Sie mir, es wird Ihnen gefallen. Aller Anfang ist schwer. Aber eben nur der Anfang.“
Ich schaue ihr nach, wie sie zusammen mit den Schwestern und Assistenzärzten das Zimmer verlässt.
Aller Anfang ist schwer.
Ja.
Besonders der Anfang vom Ende.
*
Ihre Augenringe sind so tief, dass ich mich zügeln muss, sie nicht anzustarren. Ihre Mundwinkel ziehen sich nach unten wie bei einem Stau-Smiley auf der Autobahn.
Lana. Meine neue Zimmernachbarin.
Anfang fünfzig, vielleicht auch Mitte, und meine erste Begegnung auf der neuen Station.
Mein Bett steht quer an die Wand gelehnt, hinter mir das Fenster mit Blick auf den Klinik-Garten und den Haupteingang auf der anderen Seite.
Seufzend setze ich mich aufs Bett, lehne mich an die Wand und schaue Lana aus dem Augenwinkel beim Stricken zu.
Wie traurig sie aussieht.
Nein. Traurig ist nicht das richtige Wort. Emotionslos trifft es eher. Beinahe wie ein Roboter. Unsere Vorstellung glich der zweier Menschen bei einem Bankgespräch. Kein Lächeln, keine Höflichkeitsfloskel. Nur der dezente Hinweis, dass ich bitte die zwei langen dunklen Haare, die ich nach dem Kämen im Waschbecken übersehen habe, entfernen möchte.
Nicht, dass sie unfreundlich ist. Nein. Vielmehr ist es ihre Undurchsichtigkeit, die mir Angst macht. So belastend Hannas Dauerlachen auch werden konnte, es war mir weitaus lieber als diese Totenstille.
Aber wenigstens lässt sie mich in Ruhe meinen Gedanken nachhängen.
Schweigend starre ich aus dem Fenster, das sich auch auf der neuen Station beharrlich weigert, mir den Frühling zu präsentieren.
Winter. Immer wieder. Und immer noch.
Die Idee, mich nach wochenlangem Schweigen mal wieder bei meinem guten Freund Hauke zu melden, streift mich flüchtig. Vielleicht kann er mir helfen, auf andere Gedanken zu kommen, schließlich reden wir für gewöhnlich über alles. Meine Bücher, seine Freundinnen, den Umgang mit schwierigen Mitmenschen. Sogar auf meiner Hochzeit war er damals, obwohl er mehr als drei Stunden entfernt in Ostfriesland lebt. Ob ich ihn einfach mal anrufe?
„Ich gehe rüber in den Gemeinschaftsraum“, sagt Lana, während sie ihr Strickzeug auf ihren Rollcontainer packt. „Willst du auch mit?“
„Nein“, antworte ich mit dem Ansatz eines Lächelns. „Ich bleibe noch ein bisschen hier.“
Der Gedanke, schon in einer Stunde das Abendessen mit all den fremden Menschen zu verbringen, ist einschüchternd genug.
Lana verlässt das Zimmer.
Dankbarkeit für etwas Einsamkeit wird in mir wach. Doch schon im nächsten Moment löst sie sich in beängstigende Leere auf.
Es fällt mir schwer, die Tränen zu unterdrücken, während ich mich lustlos ins Bad schleppe.
Sehnsucht nach heißem Wasser.
Wasser, das über meinen Körper fließt und meine Sinne weckt.
Doch als ich mich langsam ausziehe und unter den heißen Strahl stelle, übermannt mich die Traurigkeit komplett.
Die Tränen vereinen sich mit den Strahlen, die sich in endlosen Bahnen ihren Weg über meinen müden Körper suchen.
Mit dem letzten bisschen Verstand, das sich durch meine Traurigkeit in mein Bewusstsein kämpft, wird mir klar, dass es zum ersten Mal seit meinem Aufenthalt nicht meine Krankheit ist, die mich zum Weinen bringt. Doch diese Erkenntnis tröstet mich nur wenig.
Er ist weg.
Endgültig.
*
„Sie müssen die Energie spüren.“ Die Brasilianerin mit
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