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Das Leben Zimmer 18 und du

Das Leben Zimmer 18 und du

Titel: Das Leben Zimmer 18 und du Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Salchow
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den feurigen Augen und dem lockigen schwarzen Haar tänzelt durch den Raum, als wäre es ein Lagerfeuer und fuchtelt fröhlich glucksend mit den Armen. „Trauen Sie sich, Ihre Gefühle zuzulassen!“
    Tag zwei in der neuen Gruppe und schon jetzt fühle ich mich wie ein matschiger Apfel auf nassem Rasen.
    „Lassen Sie sich auf die Musik ein und bewegen Sie Ihren Körper so, wie die Gefühle aus Ihnen herausströmen. Sie sind frei!“
    Aus einem schnarrenden Radio im Regal singt Israel Kamakawiwo?ole „Somewhere over the rainbow“, der Soundtrack zu meinen Tränen, die auch an diesem Vormittag völlig unkontrolliert über meine Wangen laufen.
    Tanztherapie.
    Ja.
    Manche (diejenigen mit viel Fantasie) würden vielleicht behaupten, dass wir tanzen. Ich nenne es eher das demütigende Präsentieren meiner nicht vorhandenen Ambitionen.
    Mit leblos herunterhängenden Armen wackele ich durch den Raum, während ich mich bemühe, mit keinem der anderen „Tänzer“ zu kollidieren.
    „Lassen Sie alles raus! Die Gefühle strömen durch Ihre Arme. Spüren Sie es! S-p-ü-r-e-n Sie es!“
    Meine Tränen verlassen den Status der Lautlosigkeit.
    Die Therapeutin schaut mich besorgt von der Seite an. Mit ermutigendem Lächeln greift sie nach meinen Händen.
    „Lassen Sie alles raus, meine Liebe!“
    Im Rauslassen bin ich gut. Heulsusig gut.
    „Spüren Sie die Kraft, die in Ihnen liegt“, fährt sie fort, während wir Hand in Hand voreinander stehen und mit den Armen wedeln wie Kleinkinder.
    Ich mag sie. Ja, ich mag sie wirklich, diese positiv Verrückte, die es liebt, ein bisschen anders zu sein. Trotzdem ist es mir peinlich, mich vollkommen fallen zu lassen. Selbst vor ihr.
    Somewhere over the rainbow, way up high.
    Am liebsten möchte ich schreien. Jeder soll wissen, dass es nicht die Depression ist, die mich zum Heulen bringt. Aber stimmt das überhaupt? Oder ist es vielleicht gerade die Krankheit, die mich so sensibel auf Bastians Entlassung reagieren lässt?
    Lana kommt mir mit schwingenden Armen entgegen und strahlt mich an. Für einen Moment scheinen auch ihre Augenringe wie weggeblasen. Selbst ihre Mundwinkel bewegen sich ausnahmsweise nach oben.
    Sonnenstrahlen, die sich durch das breite Fenster stehlen, erhellen den aschgrauen Teppich des Therapieraums.
    Somewhere over the rainbow, way up high.
    Wer weiß, vielleicht gibt es ihn ja wirklich, diesen einen Regenbogen. Irgendwo hinter den Krankenhausmauern.

    *

    Wenn ich heute zurückblicke, fällt es mir schwer nachzuvollziehen, warum ich David gegenüber kein schlechtes Gewissen hatte. Vielleicht weil mein Interesse für Bastian mit den Augen eines Realisten, der David zweifellos ist, nichts weiter war als eine harmlose Schwärmerei. Eine Schwärmerei ohne jeden Nährboden. Zumindest zum damaligen Zeitpunkt. Vielleicht fiel es mir deshalb so leicht, David sogar von Bastian zu erzählen und davon, wie sehr mir die Gespräche mit ihm geholfen haben, erste Schritte in Richtung Genesung zu gehen. Einfach, weil er ein ähnliches Schicksal wie ich durchlebt hat.
    David verstand das sogar.
    Und warum auch nicht?
    Es war schließlich nicht das erste Mal, dass ich auch männliche Freunde hatte. Und nie hat es Grund für Misstrauen zwischen uns gegeben.
    Ich schließe meine Augen, atme tief ein und bin wieder im Frühjahr 2013. Es ist der 15. März und ich sitze mit angewinkelten Beinen auf meinem Bett, den Rücken an die kahle Wand gelehnt. Neben mir David.
    „Und wie war die erste Tanztherapie heute?“, fragt er.
    „Ganz okay“, antworte ich lustlos.
    „Ich weiß noch nicht, wann ich morgen hier sein kann“, sagt er.
    „Du brauchst morgen auch gar nicht zu kommen, Papi kommt ja schon.“
    „Ach so.“
    Es fällt schwer zu erkennen, ob es ihm etwas ausmacht. Vielleicht auch deshalb, weil ich mir keine besonders große Mühe gebe, seine Mimik zu deuten?
    Ich senke den Blick auf meine Beine.
    „Ach übrigens“, beginnt er plötzlich. „Du hast doch von diesem Bastian Enger erzählt und dass du es schade findest, dass er entlassen wurde.“
    „Ich weiß nicht genau, ob er Enger oder Anger heißt. Ich hab den Nachnamen in der Depressionsrunde nicht so wirklich verstanden. Das ist ja das Problem -“ Ich stocke. Dass ich bereits versucht habe, ihn anhand seines Namens im Internet ausfindig zu machen, kann ich ihm nicht sagen. Oder doch?
    „Eben als ich gekommen bin“, fährt er fort, „hat die eine Schwester – du weißt schon, die mit dem Glasauge – einen anderen

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