Das Leben Zimmer 18 und du
liegen.
Ich spüre seine Lippen, seine Hände, seinen glühenden Atem, während ich das Gefühl habe, mit ihm zu verschmelzen.
Doch zum letzten entscheidenden Schritt kommt es nicht.
Fragend schaue ich ihn an, als er sich von meinen Lippen löst.
„Wir müssen vernünftig sein“, sagt er leise.
„Ja“, flüstere ich, als könnte uns jemand hören.
Augenblicklich fahren wir in die Höhe und bleiben schweigend nebeneinander sitzen. Ich greife nach meinem Shirt, das auf dem Boden liegt, während Bastian seine Sporthose überzieht.
Niemand von uns sagt etwas. Vielleicht ahnen wir beide, dass jedes Wort den Moment zerstören könnte. Ein Moment, den wir beide herbeigesehnt haben, nur um ihn in letzter Sekunde anzuhalten.
Nein. Das Sehnen bezog sich nie auf das Sexuelle. Vielmehr war es der Wunsch, ihm nah zu sein. Ganz nah. So nah wie …
Ich bremse meine Gedanken.
Es wird Zeit. Zeit für eine Entscheidung.
*
19. April 2013
Lieber Hauke,
es tut mir leid, dass ich neulich nicht ans Telefon gehen konnte. Ich war völlig neben der Spur und hätte vermutlich keinen vernünftigen Ton herausbekommen. Dabei wollte ich wirklich gern mit dir reden. Es ist so viel geschehen und einfach viel zu lange her, dass ich mich gemeldet habe.
Umso glücklicher bin ich, dass ich nun endlich etwas Zeit und Ruhe finde, mich bei dir zu melden, wenn auch „nur“ auf diesem Wege. Unsere Mails waren immer rekordverdächtig lang, aber DIESES Mal habe ich die Vermutung, dass die Länge alles sprengen wird. Es gibt so viel zu erzählen und du weißt, dass ich keine Geheimnisse vor dir habe. Ich möchte, dass du weißt, wie es mir geht und wie es in mir aussieht, genauso, wie ich auch wissen möchte, was sich bei dir so tut.
Gibt es eigentlich Neuigkeiten in Sachen Henrike? Du hast schon länger nichts mehr von ihr erzählt. Und dein Job? Ich hoffe doch, dass du endlich mal ein wenig lockerlässt und nicht mehr rund um die Uhr arbeitest. Selbstständigkeit hin oder her, es ist trotzdem (oder gerade deshalb) wichtig, dass du dich nicht übernimmst. Versprochen?
Oh Mann, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Ich habe das Gefühl, meine ganze Welt hat sich gedreht und mich einfach irgendwo abgeworfen. Ohne Kompass, ohne Landkarte. Und doch war ich nie irgendwo lieber als hier.
Aber ich verwirre dich, ich weiß. Am besten ich fange von vorne an.
Du erinnerst dich sicher an meine letzte Mail, in der ich dir von meinen Gefühlen für Bastian erzählt habe. Ich weiß, du wolltest lieber am Telefon mit mir darüber reden, aber das holen wir nach, versprochen. Hier und jetzt ist es mir einfach lieber, das alles aufzuschreiben. Vielleicht weil ich so sichergehen kann, nicht die Hälfte wieder zu vergessen. Und ich möchte dir gern alles erzählen, jedes Detail, lückenlos.
Das werde ich vermutlich nicht hinbekommen und doch ist es einen Versuch wert.
Dieser Tag, an dem ich dir das letzte Mal schrieb, wurde tatsächlich zu einem sehr einschneidenden Datum für mich, denn ich habe es an jenem Abend nicht mehr ausgehalten und ihm am Telefon meine Gefühle gestanden.
Am Telefon! Ist das nicht verrückt?
Ich musste es ihm einfach sagen, es ging nicht anders. Und auch wenn es einiges gekostet hat, aber letztendlich konnte ich ihm tatsächlich entlocken, dass es ihm genauso geht wie mir. Er wollte mich nur nicht unter Druck setzen und „meine emotionale Situation nicht ausnutzen“. Trotzdem warf mich dieses Geständnis total aus der Bahn. Ich war wie von Sinnen, denn es bedeutete auch, sich konkret mit dem Gedanken auseinanderzusetzen, es David zu sagen. Und das, das war einfach unvorstellbar.
Vierzehn Jahre, Hauke. Vierzehn Jahre!
Du kannst dir vorstellen, wie schwer mir allein der Gedanke daran fiel, unsere Ehe zu gefährden.
Und dennoch wusste ich, dass wir uns schon lange vorher verloren hatten. Ich hatte das Gefühl, mich nur noch in der Position zu befinden, mich rechtfertigen zu müssen. Dafür, dass ich seit Martins Diagnose mit so vielem nicht mehr klarkam, dafür, dass mich sein und Mamas Tod so aus der Bahn geworfen hat. David war da, ja, so wie er es immer war, aber nicht selten hatte ich das Gefühl, mich dafür entschuldigen zu müssen, echtes Verständnis zu finden.
Stattdessen gab es immer nur die Frage, wann ich wieder arbeiten gehe oder was mit mir los sei. Und die vielen unbeantworteten Anrufe, wenn er nicht ans Telefon ging, aus Angst, ich könnte etwas von ihm wollen. Ich fühlte mich nicht ernstgenommen,
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