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Das lebendige Theorem (German Edition)

Das lebendige Theorem (German Edition)

Titel: Das lebendige Theorem (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cédric Villani
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glauben, dass meine Kandidatur geheim bleiben könnte! Nicht in Frankreich … Die Lyoner Kollegen haben es schnell erfahren und konnten es nicht fassen. Es war dermaßen unpassend, ein Forscher in meinem Alter, der die Absicht hat, eine so gewichtige, angesehene Stelle anzunehmen. Sie haben sich gesagt, dass ich ihnen etwas verheimliche, dass sich ein persönliches Geheimnis hinter dieser Kandidatur verbirgt.
    Nein, kein Geheimnis, nur ein aufrichtiges Verlangen, die Herausforderung anzunehmen. Aber nur unter geeigneten Bedingungen! Nun sind die Nachrichten jedoch nicht sehr ermutigend, die Verhandlungen in Frankreich scheinen ins Stocken zu geraten … Nun, Aufbruch nach Paris oder Rückkehr nach Lyon?
    Vielleicht weder das eine noch das andere. Käse hin oder her, das Leben hier ist sehr angenehm, und man hat mir vorgeschlagen, noch ein Jahr in Princeton zu bleiben oder gar noch länger, wenn sich Affinitäten ergeben, mit ausgezeichneten finanziellen und materiellen Bedingungen. Obendrein hat Claire ihre Forschungstätigkeit wieder aufgenommen, sie hat großen Erfolg in den geowissenschaftlichen Promotionskursen an der Universität Princeton, wo sie sich in ein Team integriert hat, das an einer neuen außerordentlichen Entdeckung arbeitet – es könnte sich um die ältesten bekannten Tierfossilien handeln, nicht mehr und nicht weniger! Der Leiter des Teams hat ihr nachdrücklich empfohlen, eine Postdoc-Ausbildung zu beginnen. Da sie mit mir nach Princeton gekommen ist, hat sie ohnehin ihre Stelle als Lehrkraft in Lyon verloren, und es ist schon zu spät, um an der nächsten Einstellungswelle für Lehrkräfte teilzunehmen: All das stachelt nicht wirklich zur Rückkehr an. Für sie wäre es gewiss einfacher und lohnender, hierzubleiben.
    Unter diesen Umständen ist es schwierig, den Princeton’schen Sirenen zu widerstehen. Natürlich kann ich mir nicht vorstellen, mich endgültig in einem Land niederzulassen, das bei der Brotqualität so hinterherhinkt … aber für ein paar Jahre, warum nicht? Wenn sie nicht in der Lage sind, mir in Paris einen guten Vorschlag zu unterbreiten, kann ich schließlich nichts dafür!
    All das dreht sich und rumort seit Wochen in meinem Kopf, und noch in dieser Nacht habe ich mich entschlossen, eine Mail nach Frankreich zu schicken, um die Leitung des IHP abzulehnen.
    Aber heute Morgen öffne ich meine elektronische Mailbox und erlebe die große Überraschung: Da steht es, schwarz auf weiß, alle meine Bedingungen wurden akzeptiert! Zusatzgehalt o.k., Entlastung von Lehrverpflichtungen o.k., Verlängerung meines persönlichen Stipendiums o.k. All das würde in den Vereinigten Staaten als Routineangelegenheit erscheinen, aber für Frankreich ist das ein außergewöhnlicher Deal. Über meine Schulter hinweg liest Claire aufmerksam das Angebot.
    – Wenn sie alles so machen wie gewünscht, dann musst du zurückkehren.
    Sie hat meine Gedanken ausgesprochen. Ich werde also Ende Juni nach Frankreich zurückkehren; wir werden uns von Princeton verabschieden!
    Ich muss meinen neuen amerikanischen Kollegen mitteilen, dass ich nicht bei ihnen bleiben werde. Manche werden das gut aufnehmen (viel Erfolg Cédric, das wird bestimmt spannend werden), manche werden sich Sorgen um mich machen (Cédric, hast du dir das auch gut überlegt, die Leitung eines so komplizierten Instituts bedeutet das Ende für deine Forschung), wieder andere werden furchtbar gekränkt sein (natürlich dieser hochberühmte Forscher aus Princeton, der drei Monate lang nicht mit mir reden wird). Meine diplomatischen Beziehungen werden noch komplexer sein, in den Vereinigten Staaten wie in Frankreich.
    Inmitten der Verwirrung gibt es eine Gewissheit: das Wichtigste von allem, was ich gerade erlebe, ist die laufende Arbeit mit Clément.
    *
    Das Institut Henri Poincaré (IHP), »Haus der Mathematik und der theoretischen Physik«, befindet sich auf dem Campus Pierre und Marie Curie; es wurde 1928 gegründet, um die französische Mathematik aus ihrer damaligen Isolation zu befreien; es wurde schnell zu einer Hochburg der wissenschaftlichen Bildung und der Kultur Frankreichs. Einstein hat dort die allgemeine Relativitätstheorie gelehrt, und dort hat Volterra in Frankreich die Biomathematik eingeführt. Das IHP hat auch das erste französische Institut für Statistik beherbergt und das erste französische Computerprojekt. Sogar Künstler haben es besucht, weil die Surrealisten sich dort gerne inspirieren ließen, wie Fotos und

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